Der Herr von Moor House
kleinen Streit abgesehen, hatten sich Sophie und Giles von Anfang an gut verstanden. Natürlich waren beide zu jung, um an eine feste Bindung zu denken. Giles musste sich erst einmal die Hörner abstoßen, und eine Londoner Saison würde Sophie nicht schaden. Dort konnte sie andere Gentlemen kennenlernen, bevor sie ihre Wahl traf.
Die Haustür öffnete sich, und Giles trat ein. Besorgt runzelte er die Stirn. “Christian ist noch immer nicht da. Seltsam, dass er so lange wegbleibt … Eigentlich habe ich ihn schon gestern erwartet. Weißt du, was ihn so lange in London festhält …?”
“Keine Ahnung, und es interessiert mich auch nicht”, fauchte Megan. “Dieser Schurke verschwindet einfach, überlässt mir die ganze Arbeit, und dann kommt er nicht einmal rechtzeitig heim, um als Gastgeber auf seiner Dinnerparty zu fungieren.”
“Allmählich führst du dich wie eine nörglerische Ehefrau auf, Megan”, meinte er grinsend.
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und kehrte ihm den Rücken, um den Salon zu inspizieren. Hier konnten die Gäste Karten spielen. Zufrieden schaute sie sich um. Alles in bester Ordnung, dachte sie. Wenig später klopfte es an der Tür, und Wilks meldete ihr Mr Kents Ankunft. “Er wollte den Master sprechen. Aber da Mr Blackmore noch nicht hier ist und Mr Kent heute Abend zu den Gästen zählen wird, dachte ich, Sie würden ihn vielleicht empfangen wollen, und führte ihn in die Bibliothek.”
“Danke, Wilks, ich komme gleich.”
Als sie die Bibliothek betrat, hörte sie ein leises Klirren und sah den Besucher vor dem kleinen Tisch mit den Karaffen stehen. Hastig drehte er sich um. Ihr Anblick schien ihn unbehaglich zu stimmen. “Kann Mr Blackmore nicht einmal ein paar Minuten für mich erübrigen?”, fragte er in sarkastischem Ton.
“Offenbar hat der Butler versäumt, Ihnen mitzuteilen, dass Mr Blackmore noch nicht aus London zurückgekehrt ist, Mr Kent.”
“Ah, ich verstehe. Wie schade … Ich hatte gehofft, ihn vor meiner Abreise ein letztes Mal zu sehen.”
“Wollen Sie uns schon verlassen, Sir?”
“Ja, Ma’am. Bedauerlicherweise muss ich auf das Vergnügen verzichten, heute Abend in diesem Haus zu speisen.”
Megan wusste nicht, ob sie sich erleichtert oder enttäuscht fühlen sollte. Nun war sie gezwungen, die Tischordnung zu ändern. Doch diese Mühe nahm sie gern auf sich, da Mr Kent aus Sophies Blickfeld verschwinden würde. Nicht, dass ihre Nichte Gefahr lief, ihr Herz an den attraktiven Maler zu verlieren. Aber die Aufmerksamkeit eines weltgewandten älteren Mannes schmeichelte ihr natürlich.
Langsam begann er umherzuwandern und blieb schließlich vor dem Kamin stehen. “Heute Morgen erhielt ich eine Nachricht aus London. Meine Tante liegt im Sterben. Deshalb werde ich in einer Stunde aufbrechen. Wären Sie so freundlich, Mr Blackmore meine Abwesenheit zu erklären?”
“Ja, gewiss, Sir.” Megan bot ihm keine Erfrischung an, da er offensichtlich in Eile war. Sobald er die Bibliothek verlassen hatte, schaute sie zu dem Porträt hinauf und kniff beunruhigt die Augen zusammen. Für einen kurzen Moment, als Mr Kent vor dem Kamin gestanden hatte, war ihr eine sonderbare Ähnlichkeit zwischen Louisa und dem Künstler aufgefallen.
Giles hatte den Nachmittag genutzt, um sich in seinem Zimmer auszuruhen. Während er sich für die Dinnerparty umzog, überlegte er, dass er in Abwesenheit seines Bruders vermutlich den Gastgeber spielen musste. Dies war das Mindeste, was er tun konnte, nachdem Megan so hart gearbeitet hatte.
Seufzend setzte er sich vor den Toilettentisch und griff in die oberste Schublade, die seine frisch gebügelten Krawatten enthielt. Er verstand Megans Ärger. In Christians Auftrag hatte sie die Party organisiert, und nun hielt er es nicht für nötig, rechtzeitig zu erscheinen. Das sah ihm nicht ähnlich. Normalerweise war er sehr zuverlässig.
Giles schüttelte den Kopf. Wenn sich Christians Aufenthalt in London aus irgendwelchen Gründen hinzog, hätte er sicher eine Nachricht geschickt. Dieser Gedanke beunruhigte seinen jüngeren Bruder. Er war sicher, dass auch Megan sich Sorgen machte.
Keine Sekunde lang bezweifelte Giles, dass sie genau die Richtige für Christian war – liebenswert, warmherzig und klug. Er freute sich schon jetzt auf den Tag, wo er sie seine Schwägerin nennen würde.
Plötzlich unterbrach ein lautes Klopfen seine angenehmen Zukunftsträume, und ein fremder Mann trat ein, den Arm voller gestärkter
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