Der Herzausreißer
Aas, genauer gesagt. Darin lag ein Schuhkarton, aus dem der Geruch kam. Clémentine nahm ihn heraus und schnupperte daran. In der Schachtel hatte ein Rest Beefsteak auf einer Untertasse gerade den Zustand der Verwesung erreicht. Eine saubere Verwesung, ohne Fliegen und Maden. Es wurde einfach grün und stank. Schauderhaft. Sie strich mit dem Finger über das Beefsteak, betastete es. Es gab leicht nach. Sie roch an ihrem Finger. Ziemlich faulig. Genüsslich nahm sie das Beefsteak zwischen Daumen und Zeigefinger und biss sorgfältig hinein, wobei sie darauf achtete, den Mund schön voll zu bekommen. Das war leicht, weil es sehr zart war. Gemächlich kaute sie und nahm dabei sowohl die etwas seifige Konsistenz des beizig schmeckenden Fleisches wahr, das ihr hinter den Backen ein säuerlich prickelndes Gefühl verursachte, sowie den strengen Geruch, der der Schachtel entströmte. Sie aß die Hälfte davon, legte den Rest in die Schachtel zurück, die sie wieder an ihren primitiven Aufbewahrungsort zurückschob. Daneben lag ein Käsedreieck in ungefähr gleichem Zustand gänzlich verlassen auf dem Teller. Sie tunkte den Finger hinein, leckte ihn ab, das alles mehrmals. Widerwillig schloss sie den Schrank, ging hinüber ins Badezimmer und wusch sich die Hände. Dann legte sie sich aufs Bett. Diesmal würde sie sich nicht erbrechen. Das wusste sie. Jetzt würde sie alles in sich behalten. Man musste nur Hunger haben, dafür würde sie schon sorgen. Auf jeden Fall musste das Prinzip triumphieren: die besten Happen für die Kinder; sie lachte beim Gedanken, dass sie sich in ihren Anfängen damit begnügt hatte, Reste aufzuessen, die Fettränder von Koteletts und Schinken von ihren Tellern wegzuholen, die milchgetränkten Butterbrotschnitten, die um ihre Frühstückstassen herumlagen, zu vertilgen. Aber das kann schließlich jeder. Alle Mütter tun das. Das ist durchaus üblich. Mit den Pfirsichschalen war es da schon etwas schwieriger gewesen. Wegen des samtenen Gefühls auf der Zunge. Aber selbst Pfirsichschalen sind ein Klacks; außerdem essen sie die meisten Leute zusammen mit dem Fruchtfleisch. Sie hingegen ließ alle diese Speisereste verfaulen. Die Kinder verdienten dieses Opfer wirklich — je schrecklicher es war, je übler es roch, desto mehr hatte sie das Gefühl, ihre Liebe zu ihnen zu festigen, sie zu beweisen, als ob aus den Peinigungen, die sie sich selber zufügte, etwas Reineres und Wahreres entstehen könnte — alle ihre Verspätungen musste sie wieder gutmachen, jede Minute, die sie nicht an sie gedacht hatte.
Doch blieb sie auf unbestimmte Weise unbefriedigt, da sie sich noch nicht dazu hatte durchringen können, auch Maden zu sich zu nehmen. Es war ihr auch durchaus bewusst, dass sie mogelte, wenn sie die aus der Speisekammer zurückbehaltenen Lebensmittelreste vor Fliegen schützte. Möglicherweise fiel das alles einmal auf die Kleinen zurück ...
Morgen würde sie einen Versuch machen.
6
107. Aprigust
»Wie bin ich doch unruhig«, sagte sich Clémentine, mit beiden Ellbogen am Fenster aufgestützt.
Der Garten färbte sich unter der Sonne golden.
»Ich weiß nicht, wo Noël, Joël und Citroën sind. In diesem Augenblick könnten sie in den Brunnen gefallen sein, könnten sie giftige Früchte gegessen, von einem Jungen, der auf dem Weg mit seiner Armbrust spielte, einen Pfeil ins Auge bekommen haben, die Tuberkulose erwischen, wenn ihnen ein Kochscher Bazillus in die Quere kommt, beim Riechen an zu stark duftenden Blumen das Bewusstsein verlieren, von einem Skorpion gestochen werden, den der Großvater eines Dorfkindes, der unlängst vom Lande der Skorpione zurückgekehrte weltberühmte Forscher, mitgebracht hat, von einem Baum herunterfallen, zu schnell rennen und sich dabei ein Bein brechen, am Wasser spielen und dabei ertrinken, die Steilküste hinunterklettern, dabei straucheln und sich das Genick brechen, sich an einem alten rostigen Stück Draht aufritzen und sich dabei den Wundstarrkrampf holen; sie werden an das andere Ende des Gartens gehen, dort einen Stein umwenden, unter diesem Stein wird eine kleine gelbe Larve liegen, aus der sogleich ein Insekt ausschlüpft, das ins Dorf fliegen, in den Stall eines wilden Stiers eindringen und diesen in der Nasengegend stechen wird; der Stier bricht aus seinem Stall aus und demoliert alles; und da läuft er auch schon den Weg hoch in Richtung des Hauses, er ist wie von Sinnen und lässt ganze Büschel schwarzen Haares an den Berberitzenhecken
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