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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Vian
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zurück, wenn er sich bei den Wegbiegungen in die Kurve legt; genau vor dem Haus rammt er mit gesenktem Kopf einen schweren, von einem alten, halbblinden Gaul gezogenen Karren. Unter dem Anprall bricht der Karren auseinander, und ein Metallteil wird in schwindelnde Höhen hinaufkatapultiert; vielleicht ist es eine Schraube, ein Bolzen, eine Mutter, ein Nagel, ein Deichselbeschlag, ein Haken vom Geschirr, ein Splint von den Rädern, die, schon einmal kaputt, mit handbehauenen Eschenschienen repariert worden waren; das Eisenstück jedenfalls saust in den blauen Äther hinauf. Es fliegt über das Gartengitter, mein Gott, es fällt, fällt immer tiefer, im Fallen streift es den Flügel einer Flugameise und zerfetzt ihn, die Ameise kann nicht mehr steuern, verliert ihre Flugstabilität, trudelt über den Bäumen, wie eine Ameise mit einem Tragflächenschaden eben, und geht plötzlich auf den Rasen nieder, wo, mein Gott, Joël, Noël und Citroën sitzen; die Ameise fällt auf Citroëns Wange, trifft womöglich auf Marmeladenspuren, sticht ihn ...«
    »Citroën! Wo bist du?«
    Clémentine war aus dem Zimmer gestürzt und schrie wie von Sinnen, wobei sie die Treppe im gestreckten Galopp hinunterraste. In der Vorhalle unten stieß sie mit dem Dienstmädchen zusammen.
    »Wo sind sie? Wo sind meine Kinder?«
    »Aber die schlafen doch«, antwortete die andere erstaunt. »Das ist doch die Zeit für ihren Mittagsschlaf!«
    Nun ja! Diesmal war alles noch gut abgegangen, aber es wäre doch ganz leicht vorstellbar gewesen. Sie ging wieder in ihr Zimmer hoch. Ihr Herz klopfte. Es ist entschieden zu gefährlich, sie allein im Garten zu lassen. Auf jeden Fall musste man ihnen verbieten, Steine umzuwenden. Man weiß nie, was man unter so einem Stein findet. Giftige Asseln, Spinnen, deren Stich tödlich ist, Kakerlaken, die Tropenkrankheiten übertragen können, gegen die man bisher kein Mittel gefunden hat, vergiftete Nadeln, von einem mörderischen Arzt bei seiner Flucht ins Dorf dort versteckt, nach der Ermordung von elf Patienten, die er dazu gebracht hatte, ihr Testament zu seinen Gunsten zu ändern, ein niederträchtiger Betrug, von einem diensthabenden jungen Assistenzarzt aufgedeckt, einem sonderbaren Heiligen mit rotem Bart.
    »Was Jacquemort wohl gerade treibt?«, dachte sie bei dieser Gelegenheit, oder auch umgekehrt. »Ich sehe ihn kaum mehr. Mir soll es recht sein. Unter dem Vorwand, dass er zugleich Psychiater und Psychoanalytiker sei, würde er sich womöglich in die Erziehung von Joël, Noël und Citroën einmischen. Und mit welchem Recht, müsste man sich fragen. Die Kinder gehören ihrer Mutter. Weil sie sie unter Schmerzen zur Welt bringt, gehören sie ihrer Mutter. Und nicht ihrem Vater. Und ihre Mütter lieben sie, folglich haben sie das zu tun, was diese ihnen sagen. Sie wissen nämlich besser als jene, was sie brauchen, was gut für sie ist, was bewirkt, dass sie möglichst lange Kinder bleiben. Das ist ähnlich wie mit den Füßen der Chinesinnen. Den Chinesinnen werden die Füße in ganz spezielles Schuhwerk gesteckt. Vielleicht sind es Bandagen. Oder kleine Schraubstöcke. Oder Gusseisenformen. Auf jeden Fall richtet man es so ein, dass die Füße ganz klein bleiben. Dasselbe müsste man mit den Kindern insgesamt machen. Sie am Größerwerden hindern. In diesem Alter sind sie einfach viel besser dran. Da haben sie noch keine Sorgen. Auch keine Bedürfnisse. Und erst recht keine schlimmen Wünsche. Später werden sie größer. Sie werden ihren Aktionsbereich erweitern. Sie werden hinaus in die Welt wollen. Und das bedeutet lauter neue Risiken. Sowie sie aus dem Garten gehen, kommen tausend neue Gefahren auf sie zu. Was sag ich tausend? Zehntausend. Und dabei hab ich nicht mal großzügig geschätzt. Man muß um jeden Preis verhindern, dass sie den Garten verlassen. Schon im Garten selber lauert eine unübersehbare Menge von Gefahren. Da kann ein plötzlicher Windstoß einen Ast abbrechen und sie erschlagen. Braucht nur ein Regenschauer niederzugehen, und sie sind gerade in Schweiß gebadet vom Pferdspielen oder Zugspielen oder Räuber- und Gendarm-Spielen oder von irgendeinem anderen gängigen Spiel, und sie werden vom Regenschauer überrascht: schon haben sie sich eine Lungenentzündung eingefangen oder eine Rippenfellentzündung oder eine Erkältung, oder einen rheumatischen Anfall, oder Kinderlähmung, oder Typhus, oder Scharlach, oder die Masern, oder die Windpocken, oder diese neue Krankheit, deren Namen

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