Der Herzausreißer
Gras noch dazu. Ein sauberes Zimmer dagegen ... Ach ja, das ist allerdings wahr: die Gefahr mit den Bodenfliesen bleibt: Daran werden sie sich garantiert schneiden. Die Pulsadern werden sie sich daran aufschneiden, und weil sie eine Dummheit gemacht haben, trauen sie sich wie gewöhnlich nichts zu sagen; das Blut rinnt und rinnt, und Citroën wird ganz blass. Joël und Noël weinen, und Citroën blutet. Die Tür ist abgesperrt, weil man gerade Besorgungen machen gegangen ist, und Noël fürchtet sich vor dem Blut und versucht, durch das Fenster auszusteigen und um Hilfe zu rufen, und schon klettert er auf die Schultern von Joël, hält sich ungeschickt fest, fällt und verletzt sich seinerseits am Hals, an der Halsschlagader; in wenigen Minuten ist er tot, sein kleines Gesicht ist ganz weiß. Das ist unmöglich, nein, nur kein abgesperrtes Zimmer ...«
Wie eine Wahnsinnige stürzte sie aus ihrem Zimmer und brach in jenes hinein, in dem die drei Kleinen schliefen. Die Sonne erhellte die rosaroten Wände durch die Ritzen in den Jalousien; man hörte nichts außer dem leichten Hauch der drei regelmäßigen Atemzüge. Noël regte sich und grunzte. Citroën und Joël lächelten im Schlaf, die Fäuste halb geöffnet, entspannt und harmlos lagen sie da. Clémentines Herz schlug überlaut. Sie verließ das Zimmer und ging in ihr eigenes zurück. Diesmal ließ sie die Türen offen.
»Ich bin eine gute Mutter. Ich denke an alles, was passieren könnte. An alle Unfälle, die sie riskieren, denke ich schon im Voraus. Ganz zu schweigen von den Gefahren, in die sie laufen werden, wenn sie einmal größer sind. Oder, wenn sie einmal aus dem Garten hinauskommen. Nein. Das spare ich mir noch auf. Ich habe schon gesagt, dass ich mich später darum kümmern werde. Ich habe noch Zeit, ich habe noch genügend Zeit. Es gibt jetzt schon genug Katastrophen, die ich mir ausmalen kann. So viele Katastrophen. Ich liebe sie, weil ich immer daran denke, was ihnen Schlimmes zustoßen könnte. Um entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Um jetzt schon vorzubauen. Ich gefalle mir nicht etwa darin, blutrünstige Unglücksfälle heraufzubeschwören. Sie drängen sich mir auf. Das beweist, dass ich an ihnen hänge. Daß ich für sie verantwortlich bin. Sie sind von mir abhängig. Sie sind meine Kinder. Ich muß alles tun, was in meiner Macht steht, um sie vor den unzähligen Gefahren zu bewahren, die ihnen auflauern. Die kleinen Engel. Unfähig wie sie sind, sich zu verteidigen, zu wissen, was gut für sie ist. Ich liebe sie. Es geschieht zu ihrem Wohl, dass ich an das alles denke. Mir macht es beileibe kein Vergnügen. Es läuft mir kalt dabei über den Rücken, wenn ich mir vorstelle, sie könnten giftige Beeren essen, sich ins feuchte Gras setzen, einen Ast auf den Kopf bekommen, in den Brunnen fallen, über den Rand der Steilküste hinunterrollen, Steine verschlucken, von Ameisen gebissen, von Bienen, Käfern und Dornen gestochen, von Vogelschnäbeln zerhackt werden, sie könnten auch an Blumen riechen, zu heftig daran riechen, ein Blütenblatt dringt ihnen ins Nasenloch, verstopft die Nase, dringt ins Gehirn, sie sterben, sie sind noch so klein, sie fallen in den Brunnen, ersaufen, ein Ast fällt ihnen auf den Kopf, eine Bodenfliese springt, das Blut, das Blut ...«
Sie konnte nicht mehr. Ohne ein Geräusch erhob sie sich und begab sich auf leisen Sohlen ins Kinderzimmer. Sie setzte sich auf einen Stuhl. Von ihrem Platz aus sah sie sie alle drei. Sie schliefen einen traumlosen Schlummer. Nach und nach nickte auch sie ein, verkrampft und unruhig wie sie war. Manchmal zuckte sie im Schlaf zusammen wie ein Hund, der von der Wildhatz träumt.
7
135. Aprigust
»Uff«, sagte sich Jacquemort, als er ins Dorf kam, »das ist nun schon gut das tausendste Mal, dass ich in dieses verfluchte Kaff komme, und diese Strecke kann mir nichts Neues mehr bieten. Allerdings hindert sie mich auch nicht daran, etwas anderes zu erfahren. Nun ja, einmal wird man sich wohl eine Zerstreuung leisten können.«
Überall hingen Anschläge. Weiße Plakate mit violettem Aufdruck, zweifellos mit einer Vervielfältigungsmaschine abgezogen. HEUTE NACHMITTAG LUXUS-VORSTELLUNG ... und so weiter. Die Vorstellung sollte in der Remise hinter dem Pfarrhaus stattfinden. Sie war allem Anschein nach vom Pfarrer veranstaltet.
Auf dem roten Bach keine Spur von La Gloïre. Er musste sich weiter entfernt, hinter der Biegung befinden. Aus den grauen Häusern kamen Leute im Sonntagsgewand,
Weitere Kostenlose Bücher