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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Vian
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gar nichts, nur ein unmerklicher Kratzer; von Tag zu Tag wird dieser Riss größer, und Joëls Auge, mein Gott, dieses Auge sieht aus wie geronnenes Eiweiß, wie die Augäpfel von alten Leuten, die zu lange ins Feuer geschaut haben — und das andere Auge, angesteckt von dem tückischen Leiden, richtet den stumpfen Blick zum Himmel; Joël, mein Gott, erblindet ... und die Brandungswellen schlagen an der Steilküste höher und höher, und die Erde weicht unter ihrem Gischtmantel auf wie Zucker, und wie Zucker zerfließt sie, sie schmilzt und bröckelt ab und wird weggeschwemmt, und Citroën und Noël, mein Gott, wie kalte Lava reißt sie die schmelzende Erde mit sich fort, ihre leichten Kinderleiber treiben noch einen Augenblick an der Oberfläche des schwärzlichen Stroms und versinken dann, und die Erde, ach! die Erde verstopft ihnen den Mund; schreit, schreit doch, damit man weiß, damit man euch zu Hilfe eilt!
    Das ganze Haus hallte wider von Clémentines Wehklagen. Ein Echo blieb jedoch aus, indes sie über die Stufen hinunter bis in den Garten stürzte, ganz außer sich und schluchzend nach ihren Kindern rufend. Aber da war nichts außer dem blassgrauen Himmel und dem fernen Rauschen der Wellen. Wie wahnsinnig rannte sie zur Steilküste. Dann aber fiel ihr ein, dass sie möglicherweise schliefen, und so stürzte sie wieder zum Haus zurück, doch auf halbem Weg hielt sie ein neuer Gedanke zurück und lenkte sie zum Brunnen hin, dessen schweren eichenen Deckel sie inspizierte. Taumelnd und außer Atem, fing sie wieder an zu laufen, jagte die Treppe hoch, durchstöberte alle Zimmer vom Keller bis zum Dachboden, lief wieder ins Freie hinaus. Dabei rief sie ständig mit einer Stimme, die vor Aufregung ganz heiser wurde. Dann lief sie, einer letzten Eingebung gehorchend, zum Gartentor. Es stand offen. Sie rannte den Weg hinunter. Nach fünfzig Metern begegnete sie Jacquemort, der gerade aus dem Dorf zurückkam. Er ging langsam, die Nase himmelwärts, ganz in Betrachtung der Vögel versunken.
    Sie packte ihn beim Rockaufschlag.
    »Wo sind sie? Wo sind sie?«
    Jacquemort fuhr zusammen. Es traf ihn so unerwartet.
    »Wer?«, fragte er und bemühte sich, den Blick auf Clémentine einzustellen.
    Geblendet vom hellen Licht des Himmels wie er war, tanzte ihm alles vor den Augen.
    »Die Kinder! Das Gitter ist offen! Wer hat es aufgemacht? Sie sind fort!«
    »Aber nein, sie sind nicht fort«, sagte Jacquemort. »Ich war’s, der das Gitter geöffnet hat, als ich ausging. Und wenn sie fortgegangen wären, hätte ich sie sicher bemerkt.«
    »Sie waren es!« keuchte Clémentine. »Sie Unglücksrabe! Ihnen habe ich es zu verdanken, dass sie verschwunden sind!«
    »Aber die denken doch gar nicht daran!«, sagte Jacquemort. »Fragen Sie sie nur selbst einmal, die haben nicht die geringste Lust, aus dem Garten hinauszugehen.«
    »Ihnen haben sie das vielleicht erzählt! Aber wenn Sie glauben, meine Kinder sind nicht intelligent genug, Sie an der Nase herumzuführen ...! Kommen Sie! Schnell ...!«
    »Haben Sie auch überall nachgesehen?«, fragte Jacquemort und fasste sie am Ärmel.
    Sie brachte ihn langsam aus der Ruhe.
    »Überall!«, heulte Clémentine. »Sogar im Brunnen.«
    »Zu dumm«, sagte Jacquemort.
    Mechanisch hob er ein letztes Mal den Blick. Die drei schwarzen Vögel hatten unterdessen aufgehört, mit den Malitten zu spielen und schossen im Sturzflug zur Erde nieder. Einen flüchtigen Augenblick lang blitzte ihm die Wahrheit durch den Kopf. Und er verwarf sie eine Sekunde später — als ein pures Hirngespinst, eine verrückte Idee — oder konnten sie es wirklich sein? Nichtsdestoweniger verfolgte er ihren Flug: Sie verschwanden hinter dem Steilhang.
    »Kommen Sie«, sagte er. »Ich bin sicher, dass sie das Haus nicht verlassen haben.«
    Er lief als erster los. Clémentine keuchte schluchzend hinter ihm her. Dennoch nahm sie sich die Zeit, das Gitter hinter sich zuzuziehen, sobald sie es passiert hatte. Als sie am Hause eintrafen, kam Citroën gerade die Treppe herunter. Clémentine stürzte sich auf ihn wie ein wildes Tier. Jacquemort war etwas aufgewühlt und sah diskret zu. Clémentine stammelte unzusammenhängende Worte, während sie ihn rundum abküsste und ausfragte.
    »Ich war auf dem Dachboden mit Joël und Noël«, erklärte das Kind, als sie es zum Reden kommen ließ. »Wir haben alte Bücher angeschaut.«
    Noël und Joël kamen nun auch die Treppe herunter. Sie hatten eine lebhafte Gesichtsfarbe,

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