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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Vian
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kaum noch welche geben. Besorgt fragte sich Jacquemort, was das alles wohl für ein Ende nehmen würde. Er mochte tun und sagen, was er wollte, und aus La Gloïre alles mögliche herausquetschen, für sich selbst jedoch gewann er in geistiger Hinsicht rein gar nichts hinzu. An Lebendigem besaß er nur Erinnerungen und eigene Erfahrungen. Die von La Gloïre zu integrieren, gelang ihm nicht. Zumindest nicht alle.
    »Genug damit«, sagte er sich. »Die Natur ist frisch und schön, obwohl das Jahr sich schon dem Ende zuneigt. Oktember, der mir am liebsten ist an meerumspülten Gestaden, Oktember voll der Düfte und überreif, mit schwarzen harten Blättern und rotgezähnten Brombeerhecken und all den Wolken, die am Himmelsrand sich ballen und dahinziehen, Getreidestoppeln in dem Gelb von altem Honig, all das ist doch sehr schön, die Erde ist weich und braun und warm, dabei sich in Aufregung zu stürzen, wäre doch Irrsinn, wo das alles allzu bald wieder vergangen sein wird. Ach, was ist dieser Weg doch lang!«
    Ein Zug Malitten, die zweifellos gerade in den Süden aufbrachen, lenkte seinen Blick nach oben, seines feinen Gehörs wegen. Merkwürdig, diese Gewohnheit, in Akkorden zu singen: Die Vögel an der Spitze pfiffen die Bassstimme, die in der Mitte übernahmen die Tonika, die anderen teilten sich untereinander Dominante und Leitton; einige gar versuchten sich in verfeinerten Ausschmückungen, wie zum Beispiel Septimen. Alle begannen und endeten zur selben Sekunde, jedoch mit höchst unüblichen Intervallen.
    »Die Sitten der Malitten«, dachte Jacquemort. »Wer wird sie wohl studieren? Wer mag sie wohl zu beschreiben wissen? Ein dickes Buch würde man füllen können, mit farbigen Kunstdrucktafeln, radiert von der schaffensreichen Hand eines unserer tüchtigsten Tiermaler. Malitten, Malitten, warum erforscht denn keiner eure Sitten? Unselig, wer jemals eine fing, rußfarbene Malitten, mit eurer roten Brust, dem Mondauge und dem leisen Fiepen junger Mäuse! Malitten, die ihr sterbt, sowie man den leisesten Finger an euer unantastbares Gefieder legt, die ihr aus dem geringsten Anlass eingeht, schon wenn man euch zu lange anschaut, oder dabei gar noch lacht, wenn man euch den Rücken kehrt, wenn man seinen Hut zieht, wenn die Nacht auf sich warten lässt, wenn der Abend allzu früh hereinbricht. Ihr empfindsamen und zartleibigen Malitten, bei denen das Herz all jenen Platz beansprucht, wo andre Tiere sonst nur nichtswürdige Organe bergen.«
    »Vielleicht sehen andere die Malitten nicht so, wie ich sie sehe«, sagte sich Jacquemort. »Und vielleicht sehe ich sie auch nicht so, wie ich es sage, doch eines ist immerhin sicher, nämlich wenn man die Malitten auch gar nicht sieht, so sollte man zumindest so tun, als sähe man sie. Außerdem sind sie dermaßen sichtbar, dass es lachhaft wäre, sie zu übersehen.
    Die Straße nehme ich von Mal zu Mal weniger wahr, soviel steht jedenfalls fest. Weil ich sie zu gut kenne. Und dennoch finden wir hauptsächlich das schön, was uns vertraut ist, heißt es. Ich möglicherweise nicht. Oder vielleicht deshalb, weil mir diese Vertrautheit die Freiheit lässt, an ihrer Stelle etwas anderes zu sehen. Die Malitten eben. Also wollen wir richtigstellen: Wir finden das schön, was uns genügend gleichgültig ist, dass es uns erlaubt, das zu sehen, was wir stattdessen sehen wollen. Vielleicht tue ich unrecht daran, hier die erste Person Plural zu setzen. Also das Ganze noch mal im Singular: Ich finde ... (siehe oben).«
    »Ach du meine Güte«, sagte sich Jacquemort, »da bin ich doch plötzlich so unerhört tiefsinnig und spitzfindig geworden. Wer hätte das gedacht. Im Übrigen zeugt diese letzte Definition von einem anomal gut entwickelten gesunden Menschenverstand. Und es gibt nichts Poetischeres als einen gesunden Menschenverstand.«
    Die Malitten flogen hin und her, wendeten ganz unvermutet, zeichneten auch am Himmel die graziösesten Figuren, unter welchen, bei längerem Verweilen des Bildeindrucks auf der Netzhaut, das Cartesianische Trifolium erkennbar geworden wäre, sowie noch eine Reihe anderer kurzweiliger schnörkeliger Figuren, einschließlich jener verliebt verschlungenen, die man die kardioide, will sagen die herzförmige nennt.
    Jacquemort sah ihnen immer zu. Sie flogen mit jedem Mal höher, stiegen in weiten Spiralen auf, bis sie keine eindeutig unterscheidbaren Umrisse mehr zeigten. Es waren jetzt nur mehr einfache schwarze Punkte, in eigenwilliger Anordnung und von

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