Der Herzausreißer
aufgepeitschtes Blut — es war etwas um sie wie ein Geruch von Freiheit. Als Noël sich flink einen flockigen Wolkenzipfel in die Tasche stopfte, der daraus hervorguckte, musste Joël über den Leichtsinn seines Bruders schmunzeln.
Sie ließ sie bis zum Abend nicht aus den Augen, verhätschelte sie nach Strich und Faden, überschüttete sie mit Tränen und Zärtlichkeiten, als wären sie irgendeinem Moloch gerade noch entkommen. Sie brachte sie in ihr blaues Bett und ging nicht eher weg, als bis sie sich hingelegt hatten und eingeschlafen waren. Erst dann ging sie in den zweiten Stock und klopfte bei Jacquemort. Sie redete eine Viertelstunde lang. Er nickte verständnisvoll. Als sie wieder in ihr Zimmer zurückging, stellte er sich den Wecker zum Aufstehen. Am nächsten Tag würde er ins Dorf gehen und die Arbeiter zusammentrommeln.
23
67. Novanuar
»Komm her und schau«, sagte Citroën zu Noël.
Er hatte als erster auf die Geräusche reagiert, die vom Gartentor herüberdrangen.
»Ich mag aber nicht kommen«, sagte Joël. »Mama hat’s nicht gern und weint dann wieder.«
Citroën versuchte ihn aufzurütteln.
»Es kann dir doch gar nichts passieren«, sagte er.
»Doch. Wenn sie weint«, sagte Joël, »küsst sie einen immer mit ihrem nassen Gesicht. Das ist unangenehm. Und ganz feuchtheiß.«
»Mir macht das nichts«, sagte Noël.
»Wie auch immer, was kann sie schon machen?«, sagte Citroën.
»Ich möchte ihr aber keinen Verdruss machen«, sagte Joël.
»Das macht ihr aber doch keinen Verdruss«, sagte Citroën, »es macht ihr doch Spaß, zu weinen und uns in die Arme zu nehmen und uns zu küssen.«
Noël und Citroën entfernten sich, die Arme gegenseitig über die Schulter gelegt. Joël sah ihnen nach. Clémentine hatte verboten, dass man sich den Arbeitern während ihrer Arbeit nähere. Natürlich.
Aber wie gewöhnlich werkelte sie um diese Zeit in der Küche herum, und das Gebrutzel und Topfgeklapper hinderte sie daran, auf etwas anderes zu hören; und außerdem ist es ja gar nicht weiter schlimm, den Arbeitern zuzusehen, wenn man dabei nicht mit ihnen spricht. Was für eine Teufelei hecken die denn da zusammen aus, Noël und Citroën?
Zur Abwechslung vom vielen Fliegen fing Joël, um seine beiden Brüder einzuholen, so schnell zu laufen an, dass er auf dem Kies ausrutschte und beinahe hingefallen wäre. Er erlangte jedoch sein Gleichgewicht wieder und lief weiter. Er lachte ganz allein. Da konnte er doch glatt nicht mehr laufen.
Citroën und Noël standen mit hängenden Armen nebeneinander da; an der Stelle, wo in einem Abstand von einem Meter die Gartenmauer und das goldbronzene Gartentor hätten aufragen sollen, blickten Citroën und Noël etwas erstaunt ins Leere.
»Wo ist sie?«, fragte Noël. »Wo ist die Mauer?«
»Ich weiß nicht«, murmelte Citroën.
Nichts. Eine klare Leere. Ein totales Nichts, wie mit einem Rasiermesser abgetrennt, ragte vor ihnen auf. Der Himmelsrand lag etwas darüber. Joël trat verblüfft zu Noël.
»Was ist denn da passiert?«, fragte er. »Haben die Arbeiter die alte Mauer mitgenommen?«
»Sicher«, sagte Joël.
»Was ist das hier?«, sagte Citroën. »Was haben die denn überhaupt gemacht? Das hat ja gar keine Farbe. Es ist nicht weiß. Schwarz ist es auch nicht, was für eine Farbe hat das eigentlich?
Er trat etwas vor.
»Nicht anrühren«, sagte Noël. »Rühr das bloß nicht an, Citroën.«
Citroën zögerte und streckte dann den Arm vor, hielt aber inne, ehe er das Leere erreicht hatte.
»Ich trau mich nicht«, sagte er.
»Wo das Gitter war, ist jetzt gar nichts mehr zu sehen«, sagte Joël. »Vorher hat man den Weg und einen Zipfel vom Feld gesehen, erinnerst du dich? Jetzt ist alles leer.«
»Es ist, als ob man die Augen geschlossen hätte«, sagte Citroën.
»Und dabei haben wir die Augen offen, das einzige, was man noch sehen kann, ist der Garten.«
»Es ist, als wäre der Garten unser Auge«, sagte Noël, »und als ob das da die Augenlider dazu wären. Es ist nicht schwarz und auch nicht weiß und hat überhaupt keine Farbe, es ist rein gar nichts. Eine Mauer aus nichts.«
»Ja«, sagte Citroën, »das muß es sein. Sie hat eine Mauer aus Nichts bauen lassen, damit wir nicht Lust kriegen, aus dem Garten zu gehen. Dadurch ist alles, was nicht Garten ist, nichts, und da kann man dann auch nicht hingehen.«
»Aber«, sagte Noël, »gibt es dann gar nichts anderes mehr? Bleibt dann nichts mehr übrig als der Himmel?«
»Das genügt uns«,
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