Der Hexenschwur: Roman (German Edition)
Jodokus mit müder Stimme.
Franziska gab ihrem Sohn zur Beruhigung warme Milch mit Honig zu trinken, während sich Jodokus, Magdalena, Erik und Arne an den Tisch setzten. Kaum hatten sie Platz genommen, kamen Karoline und Johann vom Friedhof zurück.
Karoline konnte am Blick ihres Mannes erkennen, was geschehen war. »Sie wissen es?«, fragte sie und wurde kreidebleich.
»Du hattest die Tür nicht abgesperrt«, sagte Jodokus, doch dieses Mal klang kein Vorwurf mit.
»Ich muss es gestern vergessen haben, als ich das Pferdegetrappel und die fremden Stimmen auf dem Hof hörte. In dem Trubel danach habe ich nicht mehr daran gedacht«, erklärte sie und setzte sich an den Tisch.
»Zum Glück ist es angekettet«, meinte ihr Mann, und Karoline nickte.
»Was ist im Keller?«, fragte Johann.
Seine Schwester erzählte von ihrem Sohn Michael und dem Tag, als die Dämonen ihn entführten und an seiner statt ihr eigenes, hässliches Kind, einen Wechselbalg, zurückließen.
»Seitdem lebt er in unserem Keller, und wir hoffen täglich aufs Neue, dass die Dämonen eines Tages ihr Kind gegen unseren Michael zurücktauschen werden. Unsere Hoffnung sinkt ständig, auch haben wir kaum noch Kraft weiterzumachen.«
»Wie kommen die Dämonen dazu, ausgerechnet euer Kind zu stehlen?«, fragte Johann, fassungslos ob des Leids, das über seine Schwester und ihren Mann gekommen war.
Karoline blickte ihren Mann an, der nickte. Und sie berichtete von der alten Hebamme Berta, die kurz vor ihrer Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen den Hexenschwur ausgestoßen hatte. »Die Hexe musste sterben«, erklärte Karoline, »weil sie uns die Dämonen schickte, die unseren Michael mitnahmen. Aus Rache hat sie mich verflucht. Seitdem sind wir nicht mehr glücklich gewesen.«
Karoline zitterte am ganzen Körper. Sie blickte mit bangem Blick zu ihrem Bruder, denn sie hatte Angst, dass er sich wie alle anderen, die von ihrem Schicksal wussten, von ihr und ihrem Mann abwenden und sie fortan mit Ekel und Abscheu beurteilen würde.
Doch Johann griff über den Tisch nach Karolines Hand und schaute sie voller Zuneigung und Mitgefühl an.
Erleichtert atmete sie aus und sah zu ihrem Mann. »Es wird Zeit, dass sich etwas ändert«, sagte sie zu Jodokus und erzählte ihm von dem Gespräch mit der Nachbarsfrau Helene, die den Reformator Martin Luther zitiert hatte, der Wechselbälger als Fleischklumpen ohne Seele bezeichnete. »Deshalb«, wies Karoline ihren Mann an, »wirst du den Balg heute noch in der Nisse ertränken.«
Magdalena, die stumm zugehört hatte, schrie auf: »Das dürft ihr nicht!«
Mit schreckensweiten Augen blickte sie zu Erik, der sich eine Pfeife ansteckte. Sie forderte ihn auf: »Erzähl ihnen die Geschichte, die du den Kindern auf unserer Reise erzählt hast.«
Erik wiegelte ab. »Das ist eine Legende, Magdalena«, erklärte er und sog den Rauch in seine Lunge.
»Das wissen wir nicht, Erik«, mischte sich Arne ein, der nachdenklich dagesessen hatte. »In jeder Legende ist ein Funken Wahrheit zu finden.«
»Was berichtet diese Legende?«, wollte Johann wissen.
Und Erik erzählte von den Trollen, die ein schönes Bauernkind gegen ihren hässlichen Balg ausgetauscht hatten, und dass sie das Kind genauso behandelt hatten wie dessen Mutter den Wechselbalg.
»O mein Gott«, flüsterte Karoline, als Erik geendet hatte. »Wenn diese Legende stimmt, dann sitzt unser Michael irgendwo in einem verwahrlosten Keller und darbt seines Schicksals.« Sie japste nach Luft und schloss die Augen. Tränen rannen unter ihren geschlossenen Lidern hervor. »Was haben wir gemacht?«, schluchzte sie und sah ihren Mann an, dessen Gesichtszüge ebenfalls voller Schmerz verzerrt waren.
Jodokus griff nach der Hand seiner Frau und flüsterte: »Es wird Zeit, dass wir Freude in das Leben unseres Michael bringen und den Wechselbalg aus dem Keller holen.«
»Das ist unmöglich«, wisperte Karoline. »Er schreit, wenn man ihn anfasst, bis er keine Luft mehr bekommt.«
Arne starrte auf den Tisch und dachte nach. Schließlich sagte er: »Ich glaube, ich habe eine Lösung.«
• •
Verzagt stieg Karoline die Treppe in den Keller hinunter, wobei sie aufpassen musste, dass sie die Schüssel mit Brei nicht fallen ließ.
Der Wechselbalg saß auf seinem Lager und versuchte einen Sonnenstrahl zu fangen, der durch das Loch in der Wand vor seine Füße fiel. Immer wieder griff er in den hellen Strahl, doch als er Karoline hörte, hielt er inne und blickte ihr
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