Der Hexenturm: Roman (German Edition)
zum letzten Mal: Wo ist dein Sohn, Müller?«, schrie der Anführer der Reitergruppe.
»Lasst den Jungen in Ruhe!«, krächzte die Frau, allem Anschein nach die Müllerin.
»Halt’s Maul, Weib, sonst lass ich dich einsperren!«
Hastig ergriff die Frau einen Stock und schabte damit um sich herum einen Kreis in den Boden.
»Dann komm und hol mich!«, keifte sie.
»Dein magischer Kreis wird mich nicht abhalten«, brüllte der Reiter, doch sein Blick verriet Unsicherheit. Er wandte sich seinen Begleitern zu und befahl: »Ihr zwei durchsucht die nähere Umgebung, und ihr beiden schaut in der Mühle nach. Der Saubub muss sich hier versteckt haben.«
»Herrgott, Raimund! Warum willst du uns Böses? Seit Jahren mahle ich das Korn für dich. Nie hatten wir Streit«, ergriff nun der Müller das Wort.
»Aber jetzt erzählt dein Sohn überall, dass er das Wetter vorhersagen könnte. Erst gestern hat er mir für einen Kreuzer vorausgesagt, dass es trocken bleiben würde. Und was hatten wir? Blitz und Donner sind über das Land gefegt, und nun liegt meine Kuh erschlagen unter den Obstbäumen!«
»Was kann Achimchen dafür, wenn du Trottel dem Geschwätz eines Kindes vertraust?«, fragte der Müller spöttisch.
»Du wirst mir die Kuh ersetzen!«, forderte der Reiter.
»Was kann ich für deine Dummheit?«, erregte sich der Müller. »Der Junge ist acht Jahre alt! Du bist ein Narr, wenn du einem Kind Glauben schenkst. Von mir bekommst du keinen Kreuzer.«
Der Reiter wusste, dass der Müller Recht hatte. Er war Opfer seiner eigenen Dummheit, und das ärgerte ihn am meisten.
»Du Hohlkopf weißt anscheinend nicht, dass wir schon bald für die Hochzeit Sondersteuern leisten müssen. Eine dieser Kühe war als Abgabe gedacht.«
Der Reiter erkannte, dass die Mundwinkel des Müllers zuckten. »Ich schwöre dir, wenn du mich verhöhnen willst, werde ich dich und deine Frau einsperren lassen. Jeder weiß, dass sie eine Hexe und euer Sohn ein Hexenbalg ist!« Aufgebracht schleuderte er die brennende Fackel nach dem Müller, der ihr mit einem Sprung zur Seite auswich.
»Jakob, komm zu mir in den Kreis!«, kreischte die Frau und fuchtelte aufgeregt mit den Händen in der Luft.
»Ich muss mich nicht in deinem magischen Kreis verstecken. Auch du, Helga, kannst da heraustreten. Raimund wird es nicht wagen, uns anzufassen!«
»Was macht dich so sicher?«
»Deine Frau wird in wenigen Wochen euer fünftes Kind gebären, und wie bei den vier anderen wird sie die Hilfe meiner Frau benötigen.«
Mutig trat die Müllerin aus dem Kreis und stellte sich neben ihren Mann.
»Ist dein Furunkel am Hintern abgeheilt?«, fragte sie den Reiter mit blitzenden Augen. Als der Mann nicht antwortete, lachte sie laut. »Dann hat meine Tinktur also geholfen.«
Die drei unfreiwilligen Zeugen der nächtlichen Auseinandersetzung wurden durch ein Geräusch unterhalb des Mühlrads abgelenkt. Der Kopf eines Knaben kam zum Vorschein. Der Junge stand bis zum Kinn im kalten Wasser des Mühlenbachs. Erschrocken blickte er in die Gesichter der jungen Männer und wagte es nicht, sich zu rühren. Nur seine Zähne schlugen vor Kälte leise aufeinander.
Die drei jungen Männer wussten sofort, wer der Bursche sein musste. Clemens zwinkerte ihm zu und legte den Zeigefinger auf den Mund zum Zeichen, dass er ruhig bleiben solle. Dann wandten die drei sich wieder dem Geschehen auf dem Hof zu.
Die beiden Reiter, die losgeschickt worden waren, den Jungen im Wald zu suchen, kehrten zurück. »Wir konnten ihn nirgends entdecken«, erklärten sie. Auch die beiden anderen, die in der Mühle gesucht hatten, traten nach draußen und zuckten stumm mit den Schultern.
»Wie sollen wir ihn in der Dunkelheit auch finden? Er könnte sich überall versteckt haben. Lass gut sein, Raimund. Es ist spät, und ich bin hungrig«, sagte einer der Männer.
Statt zu antworten, riss der Reiter, der Raimund hieß, mürrisch sein Pferd am Zügel herum und galoppierte davon. Die anderen folgten ihm. Rasch wurden die Männer und das Getrampel der Pferdehufe von der Nacht verschluckt.
Nach einer Weile, als der Müller sich sicher zu sein schien, dass die Reiter wirklich verschwunden waren, rief er mit verhaltener Stimme: »Achim, du kannst rauskommen!«
Doch nicht nur sein Sohn, sondern drei weitere Gestalten kamen hinter dem Mühlrad hervor.
Als auf Clemens’ entstellte Gesichtshälfte das Mondlicht fiel, konnte man hören, wie die Müllersleute scharf die Luft einsogen. Zwar sagten
Weitere Kostenlose Bücher