Der Hexenturm: Roman (German Edition)
ertragen.
Auch Burghard, der junge Franziskanermönch, hatte von einer Fluchtgeschichte auf Leben und Tod zu berichten. Mitten in der Nacht hatte er die thüringische Stadt Worbis eilends verlassen müssen, weil sein Lehrmeister ihm nach dem Leben trachtete.
Der Lehrmeister hieß Servatius und war wie Burghard ein Mönch aus dem Kloster zu Mainz. Als Servatius auf Geheiß der älteren Mönche das geliebte Kloster verlassen musste, um Burghard auf der Wanderschaft zu begleiten, schürte das seinen Hass auf den Jungen. Dieser Hass schlug in mörderischen Zorn um, als Servatius unterwegs Geld vermisste und sofort den jungen Burghard des Diebstahls verdächtigte und drohte, ihn eigenhändig zu erschlagen. So blieb Burghard nur die Flucht aus dem Eichsfeld. Um jedoch nicht als Franziskaner erkannt zu werden, legte er die Mönchskutte ab und verkleidete sich als Bauer. Als schließlich auch seine Haare nachgewachsen waren, dankte er dem Himmel, denn so war mit der Tonsur auch der letzte Hinweis auf sein Mönchsdasein verschwunden.
Katharina war wegen des Mannes ihrer toten Schwester auf der Flucht. Katharinas Wunsch war es seit jeher gewesen, der heiligen Elisabeth von Thüringen nachzueifern. Jede freie Minute verbrachte sie bei den Armen und Kranken und wünschte sich nichts sehnlicher, als so leben zu können wie die Heilige.
Dieser Traum zerplatzte jäh, als ihre Schwester Silvia auf dem Totenbett verlangte, dass Katharina ihren Mann Otto heiraten und Mutter ihrer drei Kinder werden sollte.
Doch noch bevor Katharina widersprechen konnte, starb Silvia, und ihre Eltern und ihr Schwager verlangten, dass der Wunsch der Toten erfüllt werden müsse. Katharina wusste, dass sie sich nicht widersetzen konnte, und nutzte eine Wallfahrt zum Hülfensberg, um diesem Schicksal zu entgehen.
Johann und Franziska wiederum hatten um ihr Leben laufen müssen. Sie wurden verfolgt, weil Johanns Vater, der Großbauer Bonner, nicht duldete, dass sein Sohn eine einfache Magd liebte oder gar zur Frau nahm. Und so hatte er alles daran gesetzt, Franziska der Hexerei zu bezichtigen. Fortan war die junge Frau in Thüringen nicht mehr sicher, denn man wollte sie auf dem Scheiterhaufen brennen sehen.
Zuflucht hatten die beiden Liebenden auf Burg Bodenstein gefunden und dort heimlich den Bund der Ehe geschlossen. Doch auch von dort mussten sie fliehen, da Bonner mit einer Truppe Mordgesellen auf dem Weg zu ihnen war. Nun suchten die jungen Eheleute einen Ort, an dem sie sicher waren und sesshaft werden konnten, denn Franziska erwartete ein Kind. Doch jedes Gebiet, das sie durchquerten, erschien Johann zu nahe am Eichsfeld gelegen. Die Angst, dass sein Vater sie aufspüren und Franziska töten könnte, trieb Johann an, sich täglich weiter von Thüringen zu entfernen.
Mühsam versuchten die fünf Weggefährten in der anbrechenden Dunkelheit den Weg zu finden. Obwohl das Mondlicht ungehindert durch die kahlen Äste auf den Waldboden fiel, konnten sie nur schwer den Pfad erkennen, dem sie folgen wollten. Der Sturm, der am frühen Nachmittag stundenlang über das Land gezogen war, hatte die gelb gefärbten Blätter wie Schnee von den Bäumen auf die Erde rieseln lassen. Nun bedeckte eine dichte Blattschicht den Waldboden und ließ alles gleich aussehen. Immer wieder blieben Clemens und Johann stehen und versuchten die Richtung zu bestimmen. Als sie auf einen Bachlauf stießen, beschlossen sie, diesem zu folgen.
Nach stundenlangem Regen schoss das Wasser geräuschvoll durch das ausgewaschene Bachbett. Das Plätschern war so laut, dass eine Verständigung durch Worte unmöglich wurde.
Immer wieder rutschen die jungen Leute auf dem glitschigen Boden aus. Steine lösten sich hier und da aus dem aufgeweichten Grund und brachten sie zum Straucheln. Wie Kinder hielten sie sich an den Händen fest und versuchten sich gegenseitig zu stützen. Als sie in der Ferne Lichter erkennen konnten, ahnten sie, dass ein Ort vor ihnen liegen musste, und machten einen großen Bogen darum.
Mitten im Gehen blieb Franziska plötzlich stehen. Erschrocken fragte Johann: »Was hast du?« Statt zu antworten, drückte sie sachte seine Handfläche auf ihren Leib. »Spürst du das?«, wisperte sie.
Johann wusste, was sie meinte. Immer wenn Franziska das heranwachsende Leben in sich fühlte, hoffte sie, dass auch er die Bewegungen des Kindes spüren würde, wenn er ihr die Hand auf den Bauch legte. Doch jedes Mal hatte er enttäuscht den Kopf geschüttelt.
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