Der Hexer - NR34 - Stirb Hexer
mehrmals geriet der Angeklagte unter den konkreten Verdacht, Verbrechen begangen zu haben. So ist zum Beispiel vor nicht ganz zwei Jahren eine junge Frau spurlos verschwunden, nachdem sie eine Stelle im Haus des Angeklagten angetreten hatte. Damals konnten wir Craven nichts beweisen. Doch für den Mord an dem jungen Mädchen, der vor ein paar Tagen stattgefunden hat, haben wir einen Zeugen.« Die Wut in seinem Blick verwandelte sich in Triumph, als er Gray und dann mich ansah. »Den Kutscher, der Craven gefahren hat!«
»Tatsächlich?« erkundigte sich Darender.
Cohen nickte grimmig. »Meine Leute sind dabei, ihn hierher zu bringen, Eure Lordschaft. In wenigen Minuten –«
Darender gähnte. »Aber das ist doch gar nicht nötig«, sagte er. »Wir alle glauben Ihnen, Inspektor.« Er gähnte erneut, hob seinen Hammer und schlug dreimal auf den Tisch. »Wenn das so ist, verurteile ich den Angeklagten hiermit zum Tode durch den Strang. Hat jemand was dagegen? Sie vielleicht, Doktor Gray?«
Gray stand auf, blickte mich traurig an und schüttelte den Kopf. »Anhand der schwerwiegenden Umstände verzichte ich im Namen meines Mandanten darauf, in die Berufung zu gehen.«
Für einen Augenblick war ich wie erstarrt. Das war doch unmöglich! Das war nicht einmal mehr eine Farce – das war schlimmstes Schmierentheater!
»Das... das kann nicht Ihr Ernst sein, Gray«, stammelte ich. »Sie...«
»Angeklagter, Ruhe«, blaffte Darender. Dann seufzte er, warf seinen Hammer in hohem Bogen hinter sich und setzte ein sehr amtliches Gesicht auf.
»Ich danke dem Staatsanwalt und dem Verteidiger für ihre Bemühungen«, erklärte er gelangweilt. »Um jede Möglichkeit auszuschalten, den Angeklagten der irdischen Gerechtigkeit zu entziehen, werde ich persönlich dafür sorgen, daß die Königin das Urteil noch heute abend unterzeichnet. Die Exekution findet morgen früh im Hof des Gefängnisses von Newgate statt!«
Darender schlug in Ermangelung eines Hammers dreimal mit der Faust auf den Tisch und verließ den Saal. Und eine halbe Sekunde später fühlte auch ich mich gepackt und hinausgeschleift. Ich hatte noch nicht einmal richtig begriffen, was überhaupt los war.
Das letzte, was ich sah, war Cohens fassungsloses Gesicht, der sich wie vom Donner gerührt in den Stuhl im Zeugenstand fallen ließ und ganz offensichtlich an seinem Verstand zu zweifeln begann.
* * *
Es dauerte lange, bis Cohen in die Wirklichkeit zurückfand. Tailworthern hatte Craven längst fortgeschafft, und auch die meisten Schöffen waren bereits fort, aber der Inspektor saß noch immer da, als erwache er gerade aus einem tiefen, alptraumgeplagten Schlaf. Er fühlte sich auch genau so. Wie in Trance stand er auf, trat aus dem Zeugenstand heraus, sah hilflos in die Runde und steuerte schließlich auf Gray zu, der in aller Seelenruhe seine Papiere ordnete.
»Das darf doch alles nicht wahr sein, Doktor«, murmelte er. »Was... was soll das bedeuten?«
Gray sah auf, schob seine Brille zurecht und musterte Cohen mit einem Was-zum-Teufel-will-der-Kerl-von-mir-Blick. Trotzdem antwortete er. »Das kann ich Ihnen sagen, Cohen: Craven wird baumeln. Gleich morgen früh. Das wollten Sie doch, oder?«
»Aber das... das war doch keine... keine Gerichtsverhandlung!« krächzte Cohen.
»Doch, doch«, antwortete Gray. »Ich muß das wissen. Ich bin Anwalt.« Er gähnte, klappte seine Aktenmappe zu und stand mit einem Lächeln auf. »Sind Sie vielleicht der Meinung, daß hier irgend etwas nicht seine Ordnung hatte?« fragte er. »Sie waren es doch, der Craven verhaftet hat, oder?«
»Aber ich... das... das –« Cohen brach zerstört ab. Das alles mußte ein Alptraum sein! »Aber Sie können das doch nicht so hinnehmen!« begann er neu. »Das war doch keine Verhandlung! Das war –«
»Ja?« fragte Gray lauernd.
Cohen ballte in stummer Verzweiflung die Fäuste. »Zum Teufel, ich wollte, daß Craven hängt – wenn er schuldig gesprochen wird!«
»Ist er doch«, sagte Gray ruhig. »Oder?« Er runzelte in plötzlichem Ärger die Stirn. »Gehen Sie zum Richter, wenn Ihnen was nicht paßt«, fuhr er Cohen an. »Ich habe Ärger genug. Ich verliere einen meiner zahlungskräftigsten Kunden, wissen Sie? Und nun gute Nacht!«
Und damit ließ er einen vollkommen fassungslosen Inspektor Cohen einfach stehen und trollte sich.
Cohen blickte ihm nach, bis er den Gerichtssaal verlassen hatte. Er war allein; nur ein Gerichtsdiener stand noch unter der Tür und wartete sichtlich
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