Wolfsruf
Prolog
DER KILLER VON LARAMIE
1
1963: South Dakota
Zunehmender Mond
Dies ist nicht das Buch, das ich schreiben wollte.
Dies ist nicht das Buch, von dem ich träumte, als ich mit meinem klapprigen Impala durch den Schnee kreuzte. Ich war jung. Ich war auf der Jagd nach Sensationen. Ich sehnte mich nach dem Kitzel, einem Massenmörder ins Angesicht zu blicken, den die Welt längst vergessen hatte. Ich würde die Reportage aller Reportagen schreiben. Ich sah das Buch - dick und natürlich in Leinen gebunden - auf dem Regal bei meinem Buchhändler stehen. Ich malte mir aus, wie die Carltons von nebenan einen Bogen um mich machen würden. Sie würden sich in ihr spießiges imitiertes Ranchgebäude zurückziehen und sich mit düsteren Mienen zuraunen, dass Mädchen nicht aufs College gehören, weil sie total verkorkst wieder rauskommen. Die bekommt doch keinen mehr ab! Ich lachte und stellte mir mein Buch vor. Während ich auf der einsamen Straße zwischen den endlosen Schneewehen dahinfuhr, mit nichts als Schnee, Schnee und nochmals Schnee um mich herum, sah ich das Buch meiner Träume immer deutlicher vor mir. Fast glaubte ich, es in meiner Hand zu spüren und die goldgeprägten Buchstaben auf dem Rücken zu lesen:
EIN MÖRDERLEBEN
von Carrie Dupré
Der Schnee war ganz ebenmäßig, hypnotisierend. Ich drehte die Heizung auf. Ich schwelgte in der Wärme. Sie machte mich müde. Es war vier Uhr nachmittags, und mir war klar, dass es so weit im Norden und mitten im Winter bald dunkel werden
würde. Na ja, ich war bestimmt bald am Ziel. Seit über einer Stunde war ich aus Wyoming raus. Viele Straßenschilder waren schneebedeckt. Vielleicht war ich schon vorbeigefahren, vielleicht hatte ich die Abzweigung übersehen. Ich würde auf der Karte nachschauen.
Der Wagen knirschte und krachte, als ich anhielt. Ich schaute in den Rückspiegel und zupfte mir das Haar zurecht. Ich stellte den Motor nicht ab, damit die Windschutzscheibe nicht zuschneite und die Heizung weiterlief. Dann faltete ich die Karte auf, die ich in Laramie gekauft hatte, und versuchte, mich zurechtzufinden. Ich wusste nur, dass im Norden die Black Hills lagen; sie zeichneten sich am Ende der weißen Prärie gegen den Horizont ab. Der Himmel war grau. Die Sonne war nicht zu sehen. Ich war allein. Ich würde mich auf keinen Fall fürchten. Es war mein fester Entschluss gewesen, Schriftstellerin zu werden und mir eines jener sensationsverheißenden Themen zu suchen, die angeblich Männersache waren … wenn ich jetzt einen Rückzieher machen würde, würden mich die Carltons bestimmt auslachen.
Vielleicht sollte ich mir kurz die Füße vertreten, dachte ich mir.
Ich schlüpfte in meinen schäbigen Mantel und wollte aussteigen. Es war so windig, dass ich mich gegen die Wagentür stemmen musste. Als ich draußen stand, knallte die Tür hinter mir zu. Im gleichen Augenblick wurde mir bewusst, dass ich den Knopf heruntergedrückt hatte und die Schlüssel im Zündschloss steckten. »Typisch Frau«, werden sie sagen und sich halb totlachen. Ich starrte durch das Fenster ins Wageninnere.
Bald würde die Sonne untergehen.
Der Wind heulte. Meine Finger wurden taub. Ich rieb mir die Hände am Innenfutter meines Mantels. Dann suchte ich nach irgend etwas, einen Ast oder einen Stein, mit dem ich das Fenster einschlagen konnte. Nichts zu sehen. Vielleicht unter dem Schnee. Mit bloßen Händen begann ich, in den Schneewehen
zu graben. Die Kälte trieb mir die Tränen in die Augen. Meine Gelenke wurden langsam steif. Ich wurde wütend. Hatten die Carltons vielleicht doch recht? Der Wind tobte inzwischen. Ich stieß meine Arme bis zu den Achseln in den Schnee. Meine Finger ertasteten etwas Hartes. Ich zog und zerrte fluchend daran.
»Brauchen Sie Hilfe?«
Ich schrie auf.
Dann sah ich zu dem Mann auf, der neben mir stand. »Es … es tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte nicht …« Er legte einen Finger an die Lippen. Er trug eine schwarze Lederjacke, hatte dunkles, schulterlanges Haar, in dem Eis glitzerte und das von einem blutroten Stirnband zurückgehalten wurde. »Woher sind Sie gekommen?«, fragte ich. »Ich habe nichts gehört …«
»Der Wind übertönt vieles«, antwortete der Fremde. Hinter ihm, auf der anderen Straßenseite, bemerkte ich ein Motorrad am Straßenrand. Ich hätte vor Freude heulen können. Stattdessen zog ich mir den Mantel zurecht und versuchte nervös, mein Haar vor dem Wind abzuschirmen. »Und was macht eine Frau wie Sie ganz allein
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