Der Hexer - NR45 - Der abtrünnige Engel
verschoben, als hätte die Hand eines Riesen es zusammengepreßt und anschließend nachzumodellieren versucht. Aber obwohl der Unbekannte sich über sie beugte, konnte Jennifer es nur undeutlich erkennen, als ob es hinter einem nebligen Schleier verborgen wäre. Auf unbegreifliche Art schienen die Konturen des Gesichts in sich zu verschwimmen und unschärfer zu werden, je stärker sie sich darauf konzentrierte.
Breitbeinig stand der Fremde vor ihr und starrte auf sie herab. Sein Atem ging rasch und keuchend und erzeugte ein widerwärtiges, rasselndes Geräusch. Seine Augen glühten unter einem inneren Feuer.
Jennifer wollte schreien, aber eine unsichtbare Hand schien ihr die Kehle zusammenzupressen. Sie war unfähig, sich zu rühren. Gelähmt vor Schrecken starrte sie den Fremden an.
In der Hand hielt er einen Spazierstock mit einem wuchtigen, silbernen Knauf. Ein gemeines Lächeln glitt über sein Gesicht, während er zum Schlag ausholte; langsam und genüßlich.
Endlich gewann Jennifer die Besinnung zurück. Sie schrie auf und wälzte sich zur Seite. Kaum eine Handbreit neben ihrem Körper hämmerte der silberne Knauf aufs Pflaster.
Jennifer versuchte aufzuspringen, aber auf dem feuchten Boden verlor sie den Halt und stürzte erneut. Der Stock fuhr herab, traf ihren Rücken und zog eine feurige Spur über ihre Haut.
Der Schmerz raubte ihr den Atem. Sie riß den Mund auf, war aber nicht einmal in der Lage, einen Schrei auzustoßen. Zusammengekauert blieb sie am Boden liegen und begann zu wimmern.
Irgendwo klangen Stimmen auf. Jennifer schöpfte wieder schwache Hoffnung.
»Hilfe!« schrie sie mit überschnappender Stimme.
Einen Moment wirkte der Fremde irritiert und hob lauernd den Kopf. Die Stimmen wurden lauter, und dann hörte Jennifer schwere Schritte, die sich rasch näherten.
»Hilfe!« schrie sie noch einmal.
Brutal riß der Mann sie hoch und schlug ihr mit der Hand ins Gesicht. Ihr Schrei brach ab. Schwarze Nebel wallten vor Jennifers Augen.
Sie spürte nicht mehr, wie der Mann sie wie einen Sack über seine Schulter warf und mit ihr in der Dunkelheit untertauchte.
* * *
»Sill«, rief ich verstört. »Was hat das zu...«
»Gehen Sie endlich«, unterbrach sie mich kalt. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie wollen, aber ich werde Sie töten, wenn Sie nicht sofort verschwinden.«
Um ihren Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, hob sie ihr Schwert noch ein wenig an.
Ich begriff überhaupt nichts mehr. War sie denn verrückt geworden, daß sie mich nicht mehr erkannte? Die Entschlossenheit in ihrem Blick zeigte, daß sie ihre Drohung ohne zu zögern wahr machen würde, wenn ich nicht gehorchte.
»Sill, komm zu dir!« Ich unternahm einen letzten Versuch, sie zur Besinnung zu bringen.
Gedankenschnell stach ihr Schwertarm vor; so schnell, daß ich keine Chance mehr zum Ausweichen gehabt hätte, wenn sie mich hätte treffen wollen. Kaum eine Handbreit vor meiner Kehle verharrte die Klinge.
Es war aussichtslos, weiter auf sie einzureden. Sie mußte wirklich den Verstand verloren haben, und sie würde mich töten, wenn ich ihr weiterhin zu helfen versuchte. Ich trat einige Schritte zurück und drehte die Handflächen nach außen, um ihr zu zeigen, daß ich ihr nicht feindlich gesinnt war.
Noch einmal hob sie das Schwert und sprang mit einem Schrei auf mich zu. Der Hieb war nicht nach mir gezielt, aber ich wich zurück und lief einige Schritte weit.
Als ich mich umdrehte, stürmte Sill In die entgegengesetzte Richtung davon. In Abständen von wenigen Sekunden rissen Blitze ihre Gestalt aus der Dunkelheit. Sie tauchte in eine Gasse ein.
Ich rannte ihr ein Stück nach, bis ich ebenfalls die Abzweigung erreicht hatte. Die Gasse lag leer und verlassen vor mir. Von Sill fehlte jede Spur.
Resignierend wandte ich mich wieder um. Der sintflutartige Regen hatte mich mittlerweile bis auf die Haut durchnäßt. Es hatte keinen Sinn, die Gegend nach Sill zu durchsuchen. Es gab Tausende von Schlupfwinkeln, wo sie sich verstecken konnte. Mir blieb nur die Hoffnung, daß sie schnellstens wieder zur Besinnung kam. Sie wußte, wo ich wohnte, und sobald ich zu Hause war, würde ich nach ihr suchen lassen. Mehr konnte ich vorläufig nicht für sie tun.
Verbissen stapfte ich weiter. Die Kleidung klebte mir am Körper; in meinen Schuhen schwappte das Wasser bei jedem Schritt. Der Regen fiel wie eine Wand aus Wasser vom Himmel, und für einen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, mich irgendwo
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