Der Hexer - NR45 - Der abtrünnige Engel
an.
Auch Howard fühlte sich enttäuscht; einige Sekunden lang hatte er wirklich der wahnwitzigen Hoffnung nachgehangen, es könnte Robert sein, auch wenn er wußte, wie unwahrscheinlich ein so unverhofftes Auftauchen nach der langen Zeit war.
Die Frau ignorierte Rowlf schlichtweg und wollte an ihm vorbei ins Haus treten, doch sie hatte sich in ihm verrechnet. Mit einer spielerisch anmutenden, für die Unbekannte jedoch sicherlich wenig angenehmen Handbewegung packte er sie und hielt sie zurück.
Die Frau warf ihm einen wütenden Blick zu, dann schaute sie Howard wieder an.
»Sie müssen Mr. Lovecraft sein. Ich komme von Robert, er – he, Sie tun mir weh«, fuhr sie Rowlf an, der seinen Griff bei der Erwähnung von Roberts Namen unwillkürlich verstärkt hatte.
»Robert? Wo ist er? Was ist passiert?« stieß er hervor und vergaß vor Aufregung sogar seinen Akzent.
»Wenn Sie mich endlich hereinließen, könnte ich Ihnen alles erklären«, fauchte die Frau.
Howard erkannte, daß sich hinter der Maske ihrer Aggressivität tiefe Unsicherheit und ein noch nicht verwundener Schrecken verbargen.
»Wat is nu mit Robert?« polterte Rowlf, kaum daß sie eingetreten war. »Wer sin Sie denn überhaupt?«
»Ich heiße Sill el Mot. Vor ein paar Stunden bin ich mit Robert angekommen, und dann...«
Sie sprach nicht weiter, sondern sah Howard fast hilfesuchend an. Sie muß Schlimmes durchgemacht haben, dachte er. Aufmerksam musterte er sie.
Sill el Mot – der Name erinnerte ihn an etwas, aber er wußte selbst nicht zu sagen, woran. Sie war jünger, als er im ersten Moment geglaubt hatte, und jetzt, als er ihr nahe war, sah er auch, daß sie ein ganzes Stück hübscher war – selbst für die Schönheitsbegriffe eines Europäers.
Wenn Howard jemals eine Orientalin gesehen hatte, dann sie. »Sill?« sagte er lahm. »Ihr – Name ist Sill?«
»Ja.« Sill nickte. »Sie müssen Howard sein. Und dieser grobe Mensch hier ist zweifellos Rowlf. Robert hat von Ihnen erzählt.«
»Er lebt also«, sagte Howard erleichtert.
Sill nickte, aber irgendwie überzeugte Howard dieses Nicken nicht völlig.
»Erzählen Sie«, sagte er.
Sill gehorchte. Mit knappen Worten schilderte sie den Überfall. »Als ich wieder zu mir kam, beugte sich ein unbekannter Mann über mich. Ich konnte ihn vertreiben, aber Robert war verschwunden«, schloß sie.
Ungläubig lauschte Howard ihren Worten. Er wußte nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Immerhin war Robert entgegen allen Befürchtungen gesund nach London zurückgekehrt, auch wenn er hier direkt wieder in die Bredouille geraten war.
»Und Sie wissen nicht, wo Robert ist?«
Sill schüttelte den Kopf. »Wenn ich es wüßte, dann wäre ich nicht hier, sondern dort, um ihn zu suchen.«
»Na, gut, dasses nich weiß, Kleine«, sagte Rowlf gutmütig. »London is ne verdammt gefährliche Stadt für’n Mächen wie dich, weisse?«
»Ach?« machte Sill. Sie lächelte. Aber es wirkte eigentlich nicht erschrocken, dachte Howard verwirrt. Ganz im Gegenteil – der Blick, den sie Rowlf zuwarf, war beinahe...
Ja – beinahe mitleidig.
* * *
Das riesige Gewölbe wurde vom flackernden Licht einiger Fackeln nur notdürftig erleuchtet. Der Lichtschein brach sich an den rauhen Wänden und den Stützpfeilern, verfing sich an Kanten und Vorsprüngen und warf bedrohlich anmutende Schatten, die von einem unheimlichen Eigenleben erfüllt schienen. Dahinter lauerte wie ein zum Sprung bereites Raubtier die Dunkelheit, die in den Tiefen des Gewölbes nistete und unablässig an den faserigen Rändern der hellen Oase nagte.
Es war feucht hier unten; kleine Wasserrinnsale liefen an den mit weißlichem Salpeter bedeckten Wänden herab und versickerten im Boden. Ein muffiger Geruch nach Moder und Schimmel erfüllte die Luft. Die Stille wurde nur vom gelegentlichen leisen Platschen eines fallenden Wassertropfens und dem leisen Knistern der Fackeln unterbrochen, wenn ein scheinbar aus dem Nichts kommender Windhauch sie zum Erlöschen zu bringen drohte.
Jennifer Corland zerrte an ihren Fesseln. Die dünnen Schnüre schnitten in ihre Haut, aber sie waren zu fest, um sie zerreißen zu können, und die Knoten waren fachmännisch geknüpft. Ihre Handgelenke schmerzten, als ob jemand eine brennende Fackel daran halten würde. Ihre Haut war blutig, und bei jeder Bewegung schnitten die Fesseln tiefer ein.
Immer wieder blickte die junge Frau zu dem schwarzgekleideten Mann, der einige Schritte von ihr entfernt auf dem
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