Der Hexer - NR45 - Der abtrünnige Engel
unterwegs, und die wenigen, denen wir begegnet waren, waren wie Schemen an uns vorbeigehastet, ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen.
Das Gelände des Sanatoriums wurde von einer fast drei Yards hohen Mauer begrenzt. Es gab ein großes, schmiedeeisernes Tor, doch um diese Zeit war es natürlich verschlossen.
»Und nun?« fragte ich niedergeschlagen. Nur mit Mühe brachte ich die Worte heraus. Ich hatte das Gefühl, als wäre mein Mund eingefroren. Fröstelnd schlang ich die Arme um den Körper.
Wortlos deutete Shadow auf eine Baumgruppe, die sich einige Dutzend Yards von dem Tor entfernt erhob. Einer der kahlen Äste reichte bis fast an die Mauerkrone heran.
Shadow hob mich hoch, bis ich den untersten Ast packen und mich hinaufschwingen konnte. Anschließend zog ich sie zur mir herauf. Ihr Gewicht schien mir die Arme aus den Schultern zu reißen, und ich wußte hinterher nicht mehr zu sagen, wie ich es überhaupt geschafft hatte.
Mit vor Kälte steifen Fingern kletterte ich weiter. Schließlich hatte ich den zur Mauer führenden Ast erreicht. Von unten war er mir wesentlich breiter vorgekommen, als er in Wirklichkeit war. Auf Händen und Knien kroch ich vorwärts. Bei jeder Bewegung neigte sich der Ast und schaukelte. Je weiter ich kam, desto stärker senkte er sich. Jeden Moment rechnete ich damit, hinter mir ein Splittern zu hören, das ankündigte, daß er mein Gewicht nicht länger tragen konnte. Einige Sekunden lang mußte ich verschnaufen, bevor ich weiterkroch. Ich hätte nie gedacht, zu welcher Entfernung sich ein so kurzes Stück dehnen konnte, bis ich mich endlich auf die Mauerkrone schwingen konnte.
Auf der anderen Seite erstreckte sich Rasen. Ich umklammerte die Mauerkante und ließ mich langsam herab, bis mein ganzes Gewicht an den Fingerspitzen hing. Dann ließ ich mich fallen. Der Aufprall riß mir die Beine unter dem Körper weg. Ich rollte mich ab und kam wieder auf die Füße. Wenige Sekunden später folgte mir Shadow. Keuchend lehnte ich mich gegen die Mauer. Die eisige Luft stach in meiner Lunge; wie eine weiße Fahne hing der Atem vor meinem Mund.
Ich blickte mich um.
Das Sanatorium erschien mir wie ein schlafendes, finsteres Ungeheuer, das jeden Augenblick aufwachen und über uns herfallen konnte. Als ich Pri hergebracht hatte, war mir die ganze Anlage mit dem weitläufigen Park, den gepflegten Buschgruppen und alten Bäumen ziemlich anheimelnd vorgekommen. Nun war von diesem Eindruck nichts mehr übriggeblieben.
Das eigentliche Gebäude zeichnete sich nur als dunkler Klotz geben den Himmel ab. Fast alle Fenster waren dunkel, lediglich im ersten Stock brannte hinter einigen nebeneinanderliegenden Fenstern Licht. Sie kamen mir vor wie gierig funkelnde Raubtieraugen.
Wie hatte ich Pri nur jemals hierherbringen können? fragte ich mich zum mindestens tausendsten Male. Wieder einmal hatte ich mich von Howard breitschlagen lassen. Er hatte mich davon überzeugt, daß es das beste für sie wäre, bis sie völlig geheilt wäre. Hier würde man ihr die beste ärztliche Hilfe angedeihen lassen, und sie wäre ständig unter Aufsicht, was natürlich ebenfalls nur ihrem eigenen Wohl diente.
Howard zufolge.
Ich hatte mir längst meine eigene Meinung zu der Sache gebildet. Er traute Pri nicht, glaubte nicht, daß ihr Geist die Verbindung mit dem Necronomicon unbeschadet überstanden hatte, und hielt sie für eine Gefahr. Das einzige Argument, das mich überzeugt hatte, Priscyllas Unterbringung in dem Sanatorium zuzustimmen, war meine häufige Abwesenheit von London. Ich konnte mich nicht in dem Maße um sie kümmern, wie es notwendig gewesen wäre, und wenn ich schon nicht selbst da war, wußte ich sie lieber in der Obhut der Ärzte als unter Howards Fittichen. Seine Abneigung gegen sie war schon fast krankhaft, und er war von dem missionarischen Drang besessen, mich vor der Gefahr zu schützen, die sie angeblich für mich darstellte. Diesmal aber würde ich sie mit nach Hause nehmen, egal, wie sehr er sich dagegen sträubte.
»Komm schon«, riß mich Shadows Stimme aus meinen Gedanken.
Ich nickte verwirrt und folgte ihr.
Ich mußte aufpassen, daß ich mich durch Pris Nähe und die Vorfreude auf unser Wiedersehen nicht von Gefühlen ablenken ließ. Wir waren schließlich nicht ihretwegen hier, und jeder Moment der Unachtsamkeit konnte gefährlich werden.
Der Rasen unter meinen Füßen war noch vom Regen der vergangenen Nacht aufgeweicht. Bei jedem Schritt sank ich fast bis zu den
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