Der Hexer - NR45 - Der abtrünnige Engel
vorwärtsgerissen. Jackson sprang zur Seite, um nicht mit ihm zusammenzuprallen. Fassungslos starrte er auf das Loch in der Tür, durch das Cravens Arm fast bis zur Schulter verschwunden war. Er begriff nicht, wie so etwas passieren konnte. Kein normaler Mensch hätte einen solchen Schlag überstehen können, ohne sich nicht wenigstens die Hand zu brechen. Craven sah nicht einmal besonders kräftig aus. Er schrie nicht, nicht der geringste Schmerz zeigte sich auf seinem Gesicht.
Mit einem Ruck zog er den Arm zurück. Die Haut an den Knöcheln war aufgeplatzt, doch kein Tropfen Blut quoll aus der Wunde. Statt dessen sah Jackson etwas Metallisches blitzen. Der Anblick war so unglaublich, daß er an seinem Verstand zweifelte.
Craven nutzte den Moment seiner Unachtsamkeit ohne zu zögern aus. Seine Hand zuckte vor und bekam Jacksons Arm zu packen. Wie eine Stahlklammer schlossen sich die Finger um sein Handgelenk.
Jetzt erst überwand der Arzt seinen Schock. Zum Teufel, er war jedem anderen Menschen durch das Serum an Kraft überlegen. Was Craven gezeigt hatte, war beeindruckend gewesen, aber es gab ganz einfache Erklärungen dafür. Vielleicht sah die Tür nur so massiv aus und war in Wirklichkeit innen hohl. In jedem Fall war der Mann mit der närrischen weißen Haarsträhne kein ernstzunehmender Gegner für ihn.
Entschlossen wollte er sich losreißen. Der einzige Erfolg war, daß der Griff noch fester wurde. Mit einem kurzen, unglaublich harten Ruck brachte Craven ihn aus dem Gleichgewicht und riß ihn zu sich heran.
Jackson schrie auf, weniger vor Schmerz als vor Entsetzen über die Kraft seines Gegners, die selbst der seinen noch weit überlegen war. Er fiel nach vorne, versuchte sich hochzustemmen und sank auf die Knie zurück. Sein Schrei wurde zu einem erstickten Keuchen, als der Griff Cravens so fest wurde, daß er ihm die Hand zu zerquetschen drohte.
»Nicht!« röchelte er. »Lassen Sie mich. Ich – ich tue alles, was Sie sagen!«
Reglos stand sein Gegner vor ihm und preßte ihn allein mit einer Hand zu Boden. Einige Sekunden lang kreuzten sich ihre Blicke. Kalter Angstschweiß bildete sich auf Jacksons Stirn. Er hatte sich für unbesiegbar gehalten, und nun wurde er quasi im Handumdrehen von einem Menschen bezwungen.
»Wo ist Robert Craven?« fragte der Mann kalt.
»Aber...« Der Arzt verstummte, als ihm bewußt wurde, was die Frage bedeutete. Der Mann war nicht Craven, obwohl er genauso aussah, wie Priscylla ihn beschrieben hatte.
»Ich weiß es nicht«, keuchte Jackson.
Der Griff verstärkte sich, und wieder schrie Jackson vor Schmerz auf.
»Wo ist Craven?« fragte der Unbekannte noch einmal.
»Ich – im Summers-Sanatorium«, stieß Jackson hervor. Vielleicht würde diese Notlüge ihm helfen. Schreckensstarr blickte er zu dem Mann auf.
Die ganze Zeit über blieb das Gesicht des Unbekannten völlig ausdruckslos. Auch seine Augen wirkten wie tote Glasmurmeln. Kein Lebensfunke zeigte sich darin. Kein Triumph, kein Haß, nichts.
Nur eisige Kälte.
Und plötzlich wußte Vernon Jackson, daß er sich erneut getäuscht hatte. Er wußte nicht, was diese Kreatur darstellte, aber er stand keinem Menschen gegenüber. Die Erkenntnis kam zu spät für ihn, und selbst wenn er die Wahrheit früher geahnt hätte, hätte er an seinem Schicksal nichts mehr ändern können. Ein Schlag traf sein Kinn mit solcher Wucht, daß sein Kopf in den Nacken geschleudert wurde und er augenblicklich das Bewußtsein verlor. Das letzte, was er in seinem Leben spürte, waren die Hände der Kreatur, die sich wie Schraubstöcke um seine Kehle legten und erbarmungslos zudrückten.
* * *
Wir brauchten fast zwei Stunden, um das einsam gelegene Sanatorium am Stadtrand von London zu erreichen, da wir alle stark frequentierten Straßen meiden mußten und immer wieder gezwungen waren, lange Umwege durch einsame Gassen zu machen. Sicherlich wurde bereits nach uns gefahndet, und die Gefahr, daß jemand mich als den gesuchten Mörder erkannte, war zu groß. Wenn das stimmte, was Shadow mir erzählt hatte, mußte ich für jeden, der mich sah, einen überaus auffälligen Anblick bieten.
Aber wir erreichten die Klinik, ohne einmal behelligt zu werden. Der Nebel war uns zugute gekommen, es handelte sich um einen nicht besonders dichten, dafür aber unangenehm feuchten Nebel, der unter die Kleidung kroch und sie klamm werden ließ. Zudem hatte sich die Temperatur empfindlich abgekühlt. Bei diesem Wetter waren nicht viele Menschen
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