Der Hexer - NR45 - Der abtrünnige Engel
eines Gewitters, das aus weiter Ferne drang und sonderbar bizarr und falsch klang, sich fast wie das Brüllen urzeitlicher Untiere ausnahm. Einen Moment lang war wieder Stille, dann antwortete das zwölfmalige Schlagen einer Kirchturmglocke auf den Donner. Aber auch dieser Laut versickerte im Schweigen der Nacht, und zurück blieb Dunkelheit...
Jennifer Corland hatte es längst bereut, sich keine Kutsche genommen zu haben. Schließlich hatte Sir Windham ihr ausdrücklich angeboten, einen Wagen kommen zu lassen; allerdings erst, nachdem er ihr verkündet hatte, daß weitere Treffen unmöglich wären. Er hatte ihr eine beachtliche Summe für ihr Schweigen geboten.
Jennifer hatte weder den Wagen noch das Geld genommen. Statt dessen hatte sie ihn geohrfeigt und war davongelaufen. Eine Kutsche war so ziemlich das letzte gewesen, an das sie gedacht hatte. Im Grunde hatte sie überhaupt nicht gedacht in diesem Moment, sondern war blind vor Zorn und ohnmächtiger Wut in die Nacht hinausgestürmt.
»Ich hasse dich, Jeoffrey Windham«, murmelte sie leise. Zornbebend strich sie sich eine blonde Haarlocke aus der Stirn. Der Wind riß ihr die Worte von den Lippen und ließ sie ungehört zwischen den Fassaden der schmutzigen Häuser verhallen. Nur das dumpfe Grollen des Donners antwortete ihr.
Sie zuckte zusammen. Jetzt, nachdem sich der Zorn und die Verzweiflung ein wenig gelegt hatten, kam die Angst. Das Unwetter näherte sich rasch; sie konnte das blaue Flackern ferner Blitze erkennen. Der Himmel spannte sich wie ein lichtschluckendes Tuch aus gefrorener Finsternis über ihr. In unregelmäßigen Abständen lugte das bleiche Antlitz des Mondes hindurch – wie ein großes, böses Gesicht, das kalt auf sie herabstarrte.
Jennifer versuchte, den Gedanken zu verscheuchen, aber es ging nicht. Die Angst hatte sich wie der Keim einer schleichenden Krankheit in ihr eingenistet und ließ sie schneller laufen. Sie mußte sich sehr beeilen, um noch vor Einbruch des Gewitters nach Hause zu gelangen. Lange würde der Regen nicht mehr auf sich warten lassen.
Ihr Zorn ebbte weiter ab. An seiner Stelle machte sich der bittere Geschmack der Enttäuschung auf ihrer Zunge breit. Was für ein Narr war sie doch gewesen! Von Anfang an hätte sie wissen müssen, daß Träume niemals wahr wurden; und wenn doch, dann als Alptraum. Dafür war alles viel zu märchenhaft gewesen. Aber in ihrer grenzenlosen Einfalt hatte sie sich die Hoffnung bewahrt, daß das Wunder doch geschehen würde. Jedesmal war sie mit größerer Erwartung zu Windham gegangen. Wie eine seelenlose Puppe war sie ihm im Bett zu Willen gewesen, hatte all die Dinge ertragen, die er von ihr verlangte, und sich immer wieder an die Hoffnung geklammert, daß er seine Versprechen doch noch einlöste. Wie hatte sie nur glauben können, der reiche, adelige »Gentleman« würde sie, die armselige Küchengehilfin, heiraten? Sie hatte Dinge getan, für die sie sich selbst verabscheute.
Und wozu? dachte sie bitter.
Wie vielen anderen Mädchen hatte er wohl noch die Ehe versprochen, nur um sie sich gefügig zu machen? Fünf? Zehn? Fünfzig? Es war Jennifer egal. Sie dachte nur noch an das, was er ihr angetan hatte. Und an ihre Rache.
Sie würde den Umtrieben dieses feinen Sirs einen Riegel vorschieben. Keine noch so hohe Summe würde sie davon abbringen. Dafür hatte er sie zu tief getroffen. Jede Demütigung hätte sie ertragen können, aber daß er ihre Hoffnungen so grausam mißbraucht und enttäuscht hatte, konnte sie nicht verzeihen. Er hatte sie zu Dingen verleitet, für die sie sich selbst haßte. Und dafür haßte sie ihn.
Jennifer wollte Rache, und sie würde sie bekommen, das schwor sie sich. Es war ihr klar, daß auch sie dafür bezahlen mußte. Alle würden mit Fingern auf sie deuten, sie würden tuscheln und die Köpfe zusammenstecken, wenn sie sie sahen. Sie würde eine Geächtete sein, aber das war ihr gleich. Ihre Enthüllungen würden einen ungeheuren Skandal auslösen. Schließlich verkehrte Windham in bester Gesellschaft.
Noch...
Der Wind war mittlerweile so stark geworden, daß er Blätter und allerlei Unrat durch die verlassenen Straßen trieb. Der Donner, der sich zuerst nur ab und zu gemeldet hatte, rollte nun fast ununterbrochen. Jennifer begegnete keinem Menschen. Aber sie achtete auch nicht auf die Umgebung. Sie merkte nicht einmal, daß sie bereits seit Minuten vor Verzweiflung weinte. Schluchzend hastete sie vorwärts, blind und ziellos und ohne selbst zu
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