Der Himmel über Garmisch (German Edition)
würde.
»Ich stell mir einfach vor, du wärst Boris«, hörte er Reagan sagen. Dann ein Lachen. »Ihr Alten! Ihr wisst, wie es geht. Aber ihr merkt nicht, wenn es kommt.«
Die Tür fiel ins Schloss.
Hardy blieb am Boden liegen und kämpfte hechelnd um Luft. Es dauerte mehrere Minuten, bis er wieder hochkam. Er schaffte es bis auf die Hantelbank, wo er keuchend sitzen blieb.
Marie stand bei der Tür. Sie weinte.
SECHS
Er hatte eine Ibu genommen, um wenigstens eine Stunde schlafen zu können. Den Rest der Nacht hatte er wach gelegen und gelitten. Weniger unter dem Schmerz, der hatte bald nachgelassen. Erheblich mehr machte ihm die Niederlage zu schaffen.
Ihr wisst, wie es geht, aber ihr merkt nicht, wenn es kommt.
Er konnte Reagan keinen Vorwurf machen. Er hatte ihm selber gesagt, er solle das Wort ›fair‹ nicht benutzen. Natürlich hatte er es anders gemeint, aber Reagan hatte getan, was er tun musste.
Bei anderen Gelegenheiten hätte er ihn dafür gelobt. Nun sah es aus, als hätten sie ein Problem. Noch eins.
Offenbar hatten Carlo und er den Jungen unterschätzt. Nicht unbedingt seine Cleverness, aber seinen Durchsetzungswillen. Er riskierte mehr, als sie ihm zugetraut hatten. Und er ließ sich nicht einschüchtern. Eine gute Entwicklung.
Eigentlich.
Über dem Dachfenster begann der Himmel, sich purpurn einzufärben. Hardy sah auf den Wecker, es war zwanzig vor sechs. Als er sich aufrichtete, entfuhr ihm ein Zischen. Er schaffte es noch immer nicht, tief zu atmen. Reagans Schwinger war perfekt platziert gewesen. Damit hätte er jeden ausgeknockt. Aber nicht jeder hätte ihn diesen Schlag machen lassen.
Ihr merkt nicht, wenn es kommt.
Marie stand bei der Tür. Als er sich aufgesetzt hatte, trat sie heran und strich ihm durchs Haar. Er seufzte und schloss die Augen.
Er ist mein Sohn , sagte sie.
Er nickte.
Du musst ihn beschützen.
»Ich versuch es ja«, flüsterte er.
Als er die Augen öffnete, war sie verschwunden. Es klopfte leise an seiner Tür. Er öffnete sie einen Spalt und sah hinaus. Draußen stand Ula. Sie war barfuß, trug nur Shorts und ein Trägershirt.
»Darf ich reinkommen?«, fragte sie so leise, dass er es eher an ihren Lippen ablas, als dass er es hörte.
Er sah an sich herab. »Sekunde«, sagte er dann und schloss die Tür wieder.
Er zog seine Trainingssachen über die Feinrippunterwäsche und schlüpfte in die Adiletten, bevor er wieder öffnete.
»Entschuldige die Uhrzeit«, sagte Ula. »Aber ich kann nicht schlafen.«
»Ich auch nicht. Aber deshalb besuche ich keine Leute.«
»Soll ich gehen?«
»Nein, schon gut. Was willst du?«
»Was hast du mit Reagan gemacht?«
»Hat er es dir nicht erzählt?«
»Nein. Er wollte nicht mit mir sprechen, ist sofort auf sein Zimmer. Später in der Nacht sind dann David und Radek gekommen, und sie sind zusammen weggefahren. Bis jetzt sind sie nicht wieder da.«
Hardy setzte sich an den Tisch und wies auf den zweiten Stuhl. Sie setzte sich und schlang ihre Arme um die Knie.
»Kalt?«, fragte Hardy.
Sie nickte. Er stand auf und holte seine kratzige Wolldecke aus dem Schrank. Sie breitete sie über ihre nackten Beine.
»Danke … Was hat Reagan eigentlich angestellt?«
»Eine Dummheit. Mehr brauchst du nicht wissen.«
»Wieso eigentlich nicht?«
»Du weißt, warum.«
»Ja. Ich weiß, warum. Aber ich frage mich, ob dieses Warum noch richtig ist.«
Er strich mit der Hand über seinen Oberbauch, aber der Schmerz schien nicht vergehen zu wollen.
»Könnt ihr … Können wir es uns leisten?«, fragte sie.
» Was leisten?«
»Auf mich zu verzichten.«
Er sah sie ungläubig an.
»Guck nicht so. Ich meine es ernst.«
»Das versuch ich gerade zu verstehen.«
»Ich glaube nicht, dass es überheblich ist, wenn ich sage, dass ich intelligenter als Gunther und Reagan bin.«
Hardy wiegte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Es ist nicht unbedingt richtig, aber überheblich ist es auch nicht.«
»Schön, dass du das so siehst«, sagte sie mit einem Lächeln.
»Aber es geht nicht nur um Intelligenz«, sagte er.
»Sondern? Darum, dich k. o. schlagen zu können?«
Er sah sie müde an.
»Ich hab euch beobachtet. Durch den Türspalt.«
»Verstehe.«
»Wie geht es dir?«
»Passt schon. Hab nur schlecht geschlafen.«
Sie sah ihm in die Augen, und er hatte das Gefühl, dass sie ihm nicht glaubte.
»Weißt du, was mir Angst macht?«, fragte sie. »Der Gedanke, dass Reagan recht haben könnte.«
Hardy hob den Kopf und sah aus
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