Der Himmel über Kasakstan
des Dorfes. Sogar der ungläubige und ewig lästernde Semjow war einmal zu einer Weihnachtsfeier gekommen, die man in der stolowaja mit dem ganzen Dorf und dem Nachbardorf veranstaltete. Er hatte über den brennenden Tannenbaum gelächelt, die Kinder, die als Engel verkleidet Gedichte aufsagten, laut belacht … aber als die deutschen Bauern mit gefalteten Händen ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ sangen und im Saal eine bisher verborgene und versteckte Glocke zu läuten begann, war auch Semjow still geworden und verließ am Ende der Feier das Dorf sehr nachdenklich und mit Gefühlen, die er drei Tage bekämpfen mußte, bis er sein bolschewistisches Herz wiederfand.
Leise betrat Bergner die stolowaja. Er zog hinter sich vorsichtig die Tür zu und blieb an ihr stehen.
Als man vor vier Jahren auf eine Anregung aus Moskau hin, jedes Dorf müsse seinen Festsaal haben, um die Redner aus der Stadt zu hören oder Stalins Geburtstag und das Fest der Oktoberrevolution würdig zu begehen, diesen Saal am Rande von Nowy Wjassna baute, hatten die Bauern heimlich die Rückwand aus einer doppelten Wand hergestellt. Zwischen den beiden Wänden war so ein Hohlraum von etwa einem Meter Tiefe entstanden. Hier stand ein kleiner, schlichter Altar mit einem handgeschnitzten Christus darauf, der die Arme ausbreitete, als wolle er sagen: Kommet alle zu mir, ich will euch helfen …
In Shitomir, in Korosten, selbst im Nachbardorf Perdunja wußte man nichts von dieser Doppelwand und der heimlichen Kirche von Nowy Wjassna. Nur einmal, eben an jenem Weihnachtsabend, als Semjow in der stolowaja hockte, hatte die verborgene winzige Glocke die Heilige Nacht in aller Öffentlichkeit eingeläutet. Aber Igor Igorowitsch unternahm nichts. Er war zu ergriffen, und später, wieder in Korosten, vergaß er es.
Als Rudolf Bergner den Saal betrat, war die Hinterwand aufgeklappt. Vor dem armeausbreitenden Christus brannten zwei kleine Ikonenlichter in bunten Papierschalen und warfen ihr armseliges, flackerndes Licht über das roh geschnitzte Gesicht der Figur.
Vera Petrowna kniete vor dem Altar und betete. Ihr Kopf war tief über die gefalteten Hände gebeugt … sie verschwamm fast in der Dunkelheit, nur ihr weißes Kopftuch, gebleicht in der Sonne des Pripjet, durchbrach die Dunkelheit und wirkte unter dem zitternden fahlen Licht wie ein großflächiges, von Form und Zügen entblößtes Gesicht.
Sie hatte Rudolf Bergner nicht bemerkt, als er eintrat. Ihre Versunkenheit in das Gebet war zu stark, um auch seine leisen Schritte zu hören. Erst als er ihre Schulter berührte, zuckte sie zusammen und schnellte wie ein Raubtier empor.
»Du, Sascha …«, sagte sie aufatmend.
Sie warf sich an seine Brust und verbarg den Kopf an seinem Rock. Als er sie umfaßte, spürte er ihr Zittern.
»Du mußt keine Angst haben, Veraschka«, sagte er zärtlich. »Es wird ja alles gut.«
»Was haben sie in Shitomir gesagt?«
Bergner sah auf das Gesicht Christus'. Der armselige Kerzenschein schien sich in den Runzeln zu verstecken.
»Wir müssen gehen …«
»Man hat uns Zeitungen und Zettel geschickt. Man verspricht uns neue Höfe und besseres Land, wenn wir sagen: Wir sind Deutsche! Gibt es denn besseres Land als unseres, Sascha?«
»Es wird keine Kolchosen mehr geben und keine Norm. Wir werden das, was wir ernten, behalten dürfen. Wir werden …« Er wischte sich über die Augen und drückte Vera Petrowna an sich. »Als mein Großvater nach Rußland ging, tat er es, um nicht Sklave eines Fürsten zu sein. Jetzt sollen wir versklavten Enkel zurück in eine freie Heimat. Ist das nicht ein guter Tausch?«
Sie sah ihn an, aus großen, starren Augen. »Gestern hast du anders gesprochen, Sascha …«
»Gestern. Ich habe eingesehen, daß es keinen Zweck hat, sich dagegen zu wehren. Es ist eine große Welle, die über uns hinwegspült. Hitler hat Polen erobert und Rußland einen Teil seiner Beute abgegeben. Der Lohn dafür sind wir. Man nennt es Politik, Veraschka … es sind Mühlsteine, in denen die Völker zermahlen werden, bis sie Schrot sind. Aus ihm backt man die neuen Staaten. Kann sich ein Korn dagegen wehren, zermahlen zu werden?«
»Wer ist Hitler, Sascha?«
»Der Herr in Deutschland.«
»Unser Herr?« Sie sah hinüber zu dem hölzernen Christus. »Was will er von uns?«
»Daß wir da sind. Weiter nichts.«
»Und nur, weil er es will, müssen wir gehen?«
»Ja.«
»Und das nennst du frei sein, Sascha?«
Es war ein Ton in ihrer Stimme, der ihn an
Weitere Kostenlose Bücher