Der Himmel über Kasakstan
…«
»Noch gehört alles nicht uns. Noch müssen wir arbeiten, um alles zu bezahlen. Und wir werden arbeiten!«
Sie nickte. »Wir werden die Norm verdoppeln, schon aus Dank.«
»Hier gibt es keine Norm, mein Liebling.« Boris mußte lächeln. Er streichelte über Svetlanas Wange und drückte ihren Kopf an sich. »Langsam beginne ich zu begreifen, warum der Russe den Westen haßt.«
Sie begannen ihre Koffer und Säcke auszupacken und legten die armseligen Sachen auf den Boden der Wohnung … die Steppjacken Boris' und Svetlanas und der Kinder, die alten, oft geflickten Mäntel, die Kopftücher, einige verbeulte Kochtöpfe, zwei Kissen mit Entenfedern, einige Schürzen, drei Paar dicke, klobige Bauernstiefel … sie legten alles auf die Erde, weil sie sich scheuten, die Sachen auf die guten Tische oder das saubere, weiß bezogene Bett zu legen. Als Svetlana den Kleiderschrank öffnete – er war innen aus Birnbaum –, schüttelte sie den Kopf.
»Da können wir unsere Dinge nicht hineinhängen. Der Schrank ist zu schade.«
»Wenn wir uns vom ersten Geld neue Kleider kaufen, werden wir alles verbrennen …«
»Verbrennen??!« Svetlana sah Boris entsetzt an. »Das hier ist Rußland. Wir wollen es nicht verbrennen! Wir wollen es immer hier behalten und daran denken und glücklich sein trotz allem, was vielleicht noch kommen wird …«
Vor dem Fenster pfiff es. Boris öffnete es und sah hinaus.
»Um halb neun Uhr erwartet euch Herr von Gerber«, rief der Verwalter hinauf. »Soll ich euch jemanden zum Einräumen schicken?«
»Nein, nein, danke.« Boris winkte hinab. »Wir haben nicht viel. Wir kommen ja als Bettler um ein neues Leben.«
Später saßen sie am Fenster.
Die Kinder schliefen in den wundervollen weichen Betten und träumten, sie schwebten auf einer Wolke. Im Schlaf lächelten sie so selig, daß Erna-Svetlana lange bei ihnen saß und in ihre träumenden Gesichter sah.
Nun saßen sie am Fenster, gewaschen, gekämmt, so sauber, wie es möglich war. Stumm sahen sie hinaus auf die Felder und Wälder und auf den kleinen Hang, hinter dem der Rhein floß. Nebeneinander, Kopf an Kopf, starrten sie in den Abend.
»Woran denkst du, Svetla«, fragte Boris nach einer langen Zeit des Schweigens leise.
»Woran auch du denkst, Bor.«
»An Kasakstan –«
»An den Himmel, Bor … Wenn der Abend kam, war er wie ein Tuch aus bunten Streifen …«
»Und die Steppe war rot …«
»Und die Häuser blau …«
»Und die Wälder schwarz mit goldenen Spitzen …«
Sie schwiegen wieder und starrten hinaus in den fahlen Herbstabend. Ihre Köpfe lagen aneinander, und mit den Händen hielten sie sich fest.
»Wir wollen tapfer sein«, sagte Boris leise.
»Ganz tapfer, Bor …«
»Weißt du, was jemand zu mir sagte?«
Svetlana schüttelte den Kopf. »Nein –«
»Mit dreißig beginnt erst das Leben –«
Sie nickte ergeben. »Wir wollen daran glauben«, sagte sie leise. »Und wir müssen es beweisen … schon wegen der Kinder, Boris.«
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