Der hinkende Rhythmus
Ich-binverschossen-in-deine-Lippen-Strauß … der Verlass-mich-nicht-Strauß … Und schließlich fand sich Güldane auf der üblichen staubigen Straße wieder, mit dem Nichts-und-absolut-nichts-Strauß in der Hand …
Sie hatte den Tag ohnehin spät angefangen, und so war er auch bald um. Sie hatte auch gar nicht schlecht verkauft. Mit dem Geld, das ihre Taschen füllte, ließ das Gewicht ihrer Sorgen allmählich nach. Sie war sogar zu Schabernack bereit; als ihr ein jüngerer Kerl in die Wange zwickte, tat sie so, als wäre sie sehr verärgert. Es waren nur noch wenige Sträuße, nur noch ein paar Lichtstrahlen bis zum Sonnenuntergang. Da sah sie ihn an der Straßenecke: den schwarzen Jeep.
Güldane bebte, als hätte sie ein Stromschlag getroffen. Um nicht zu fallen, hielt sie sich an den Nelken in ihrer Hand fest. Das Wagenfenster war zur Hälfte heruntergefahren. Auch der Mann hatte Güldane entdeckt und nun klebte ein Lächeln auf seinen Lippen: nicht spöttisch, nicht gereizt, nicht zart, nicht verachtend und auch nicht anziehend, aber vielleicht eine Mischung aus allem. Und dieses Lächeln nahm Güldane gefangen. Sie musste sich mit aller Kraft beherrschen, damit ihr die Knie nicht weich wurden oder damit sie nicht, jetzt, auf der Stelle …
Die Ampel schaltete auf Rot. Alles blieb stehen. Güldanes Blut dagegen begann wieder zu pulsieren. Das gab ihr Kraft. Für einen Moment flackerte ein Licht in ihr auf und sie lief auf den Jeep zu.
»Die letzten«, sagte sie, »die letzten Nelken. Nimm sie.«
Als Antwort wurde ihr ein schmieriger, anmaßender Luftkuss zugeworfen. Die Scheibe wurde ganz langsam heruntergefahren. Sie atmete den unbeschreiblichen Geruch des Mannes ein, den Geruch eines wilden Tieres. Und das raubte ihr den Verstand. Blitzschnell drehte sie sich um, schnappte sich vom Boden eine Handvoll Kalkstaub, der von der Baustelle des Einkaufszentrums stammte, und schleuderte ihn im selben Augenblick, als die Ampel auf Grün sprang und der Jeep einen Satz nach vorn machte, dem Mann ins Gesicht.
Dann lief sie davon und schaute nicht mehr zurück. Der Jeep kam zunächst ins Schlingern. Das Auto reagierte auf einen falschen Befehl seines Fahrers, in dessen Augen ein Feuer loderte. Er drückte, statt auf die Bremse zu treten, das Gaspedal durch. Der Jeep schoss nach vorn und ein Kleintransporter, der ihn an der Seite rammte, schleuderte ihn gänzlich aus der Spur. Der Fahrer, der in Finsternis gehüllt war, riss das Lenkrad besinnungslos nach rechts und links … Schließlich rauschte der wuchtige schwarze Wagen wie ein riesenhafter Müllsack unter lautem Getöse in die Baugrube des Einkaufszentrums.
Güldane hörte das Geräusch, und auch wenn sie das Geschehene nicht sah, begriff sie es mit dem Herzen. Sie fühlte echte und tiefe Erleichterung in sich aufsteigen. So sehr, dass sie in einem Neunachtelrhythmus, der ihr im Gedächtnis geblieben war, verstohlen hüpfte. Die Nelken, die sie noch in der Hand trug, warf sie über die Schulter zurück. Sollen sie ihm das Grab schmücken, sagte sie sich. Güldane machte sich auf den Weg in ihr Viertel. So sah sie weder den Jeep, dessen Reifen überall verstreut lagen, dessen Scheiben explodiert waren, dessen Rumpf wie ein Akkordeon zusammengeknautscht und in Staub und Rauch gehüllt war, noch die neugierige, besorgte Menge, die sich am Rand der Grube zusammengefunden hatte und mit ihren Mobiltelefonen zu fotografieren versuchte.
Mit einem kaum hörbaren Lied auf den Lippen trat Güldane ins Haus. Sie nahm einen Topf aus dem Kühlschrank und stellte ihn auf den Herd. Yunus erlebte seine Schwester seit langem zum ersten Mal so gutgelaunt. Eine Weile betrachtete er sie, wie sie mit großem Appetit die Linsensuppe löffelte. Danach saßen alle drei vor dem Fernseher und machten sich über alles lustig. Als Safiye in die Küche ging, um Tee einzugießen, schlich sich Yunus zaghaft an Güldane heran.
»Schwester«, sagte er, »die Jungs werden unruhig, sie fragen mich immer wieder, wollen wir heute Abend eine Vorstellung machen?«
Er klammerte sich an sein Tamburin und wartete auf die Antwort. Güldane dachte kurz nach.
»Ja komm, machen wir«, sagte sie dann und sah ihn an. »Dir schlage ich doch keinen Wunsch ab. Warte, bis Mutter schläft, und sammle nach Mitternacht die Jungs ein.«
Das tat Yunus dann auch. Während Safiyes Schnarchen in die Nacht eindrang, schlich sich Güldane ins Bad und öffnete den Vorhang einen Spalt breit, ohne Licht zu machen.
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