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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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niemand da? Bringt diese Frau hier raus. Ist niemand da?«
    »Niemand wird dich hören, mein Sohn. Mach dir nicht umsonst die Mühe. Es ist niemand da.«
    »Bringt diese Frau hier raus, bringt sie raus!«
    »Nicht doch, red nicht so. Siehst du nicht, wie traurig mich das macht?«
    »Geh weg … geh … geh weg.«
    »Ich bin von weit her gekommen, Halil. Guck, wir haben uns so lange nicht gesehen.«
    »Warum bist du gekommen? Du warst schon ewig nicht da, warum kommst du jetzt?«
    »Um mit dir zu reden, mein Sohn. Lass uns ein bisschen reden.«
    »Es gibt nichts zu reden. Es ist vorbei. Aus. Ich will nicht reden.«
    »Sag das nicht. Siehst du nicht, was aus mir geworden ist? Ich bin alt geworden. Ich bin am Ende. Ich bin sehr traurig.«
    »Mach die Lichter an.«
    »Die Lichter sind ja an, mein Sohn.«
    »Es ist sehr dunkel hier. Mach doch mal die Lichter an.«
    »Mein Sohn, du bist erblindet. Deshalb siehst du nichts. Hier ist es ganz hell. Alle Lichter sind an.«
    »Du lügst. Ich bin nicht blind.«
    »Gut, dann glaub mir eben nicht. Glaub nur das, was du selber denkst.«
    »Was willst du?«
    »Ich bin gekommen, dich zu sehen, mein Sohn. Du hast mir sehr gefehlt. Und ich muss dir ein paar Dinge sagen. Ich muss dir was erklären.«
    »Ich möchte keine Erklärung. Geh weg von hier.«
    »Es ist nicht so, wie du denkst. Nichts ist so, wie du denkst. Lass mich erzählen, erlaube mir zu erzählen.«
    »Schweig … schweig, Frau, schweig!«
    »Du machst mich traurig, sehr traurig.«
    »Geh weg.«
    »Ich kann doch nirgendwohin gehen. Mein Platz ist hier. Du bist hierhergekommen, mein Sohn. Guck, das ist eine Gelegenheit. Gott hat uns diese Gelegenheit beschert.«
    »Nimm das Wort Gott nicht in den Mund!«
    .......
    »Ich will dir nicht zuhören. Ich will deine Stimme nicht hören.«
    .......
    »Ich hab’s satt. Du hast mich ruiniert. Hast mein Leben ruiniert.«
    .......
    .......
    .......
    »Mutter?«
    »Ich bin hier, mein Sohn.«
    »Weinst du?«
    »Es zerreißt mir das Herz. Ja, ich weine, ich habe immer geweint. Ich habe so viel geweint, das weißt du gar nicht. Du hast mir nie zugehört. Du hast nie gefragt: ›Mama, warum hast du das getan? Was fehlt dir?‹ Ich habe dich sehr geliebt, Halil. Und liebe dich immer noch. Ich kann nämlich lieben. Hast du das gewusst? Hab ich’s dir schon mal gesagt?«
    .......
    »Vielleicht auch nicht, das kann natürlich auch sein. Ich konnte es wahrscheinlich nicht sagen. So hat man uns erzogen, mein Sohn. So war es zu unserer Zeit. Mütter haben ihren Kindern nicht gesagt, dass sie sie lieben. Aber gut, was soll’s, meine Mutter hat mir das auch nie gesagt. Trotzdem habe ich mich nicht so verhalten wie du. Ich war immer ein braves Kind. Ich hab immer geschwiegen. Aber du … du bist ein treuloses Kind. Schon bei deiner Geburt war das klar. Ich bin fast gestorben bei deiner Geburt, das weißt du doch, oder? Du hast versucht, mich zu vergiften. Mich zu vergiften, als du noch in meinem Bauch warst. Macht nichts. Ich hab’s vergessen, habe versucht, es zu vergessen. Als man dich auf meinen Arm gelegt hat, warst du wie ein Wurm. Du warst ein Wurm, der versucht hat, mich zu töten, mein Sohn. Aber trotzdem hab ich diesen Wurm gestillt. Ich habe ihn ernährt, ihn großgezogen. Du warst ein riesiges Kind. Mit zwei warst du schon zwölf Kilo schwer. Mir sind die Arme abgefallen, wenn ich dich getragen habe. Mein Rücken wurde krumm. Schmerzen haben mich wie Messer gestochen. So ein großes Kind bist du gewesen. Ich hab dich ernährt, hab dich gefüttert, habe dich so großgezogen, dass ich dich nicht mehr tragen konnte. Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Woher sollst du es auch wissen? Du bist undankbar. Du bist frech. Du verstehst rein gar nichts. Du machst mich krank. Guck, mir wird schon wieder übel. Du machst mich krank, du. Auch bei der Geburt hast du versucht, mich zu vergiften, du hast immer versucht, mich zu vergiften. Du glaubst wohl, ich weiß das nicht, oder? Glaubst, ich durchschaue das nicht. Aber ich hab dich trotzdem geliebt. Mein Sohn, hab ich gesagt, habe dich ans Herz gedrückt. Ich hab dich immer geliebt. Hörst du mich, Halil? Mach deine Augen auf und schau. Schau mich an. Augen auf, sag ich dir. Mach deine Augen auf und schau mich an. Halil … Halil …«

    Eine unbestimmte Zeit lag Halil in diesem Zimmer im Dunkeln und wusste weder, was ihm zugestoßen war, noch, wo er sich befand. Abgesehen von seltsamen Träumen, die er hin und wieder hatte, war ihm im Großen

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