Der Hintermann
Vorstellung des Komikers sehr zum Vergnügen seines großen Publikums neue Tiefen der Anzüglichkeit erreicht hatte. Mit Hilfe einer Technik, die er in seiner Jugend gelernt hatte, blendete Gabriel mental die Störgeräusche – von den Celloklängen bis zum lauten Gelächter der Menge – nacheinander aus. Dann sah er ein letztes Mal auf seine Armbanduhr und wartete darauf, dass der Mann in dem grauen Mantel seine Signatur hinterlassen würde.
Es war 14.36 Uhr. Der tote Mann hatte den äußeren Rand der großen Zuschauermenge erreicht. Nach kurzem Zögern, als suche er eine Schwachstelle, um in sie eindringen zu können, zwängte er sich rücksichtslos zwischen zwei erschrockenen Frauen hindurch. Parallel zu ihm schlüpfte Gabriel einige Meter weiter rechts fast unbemerkt durch eine amerikanische Touristenfamilie. Die Zuschauer standen überall vier bis fünf Reihen tief und dicht nebeneinander, was Gabriel vor ein weiteres Problem stellte. In einer solchen Situation wäre die ideale Munition ein Geschoss mit Hohlspitze gewesen, das trotz größter Zerstörungskraft die Umstehenden am wenigsten gefährdet hätte. Aber Gabriels Beretta war mit gewöhnlichen 9-mm-Parabellumpatronen geladen. Deshalb würde er eine Position finden müssen, aus der er extrem steil nach unten schießen konnte. Andernfalls war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er als Kollateralschaden einen der Unbeteiligten erschoss, die er retten wollte.
Der Selbstmordattentäter hatte den innersten Zuschauerring durchbrochen und hielt jetzt auf den Komödianten zu. Sein Blick war glasig geworden, schien ins Leere zu starren. Seine Lippen bewegten sich. Das letzte Gebet … Der Straßenkomödiant nahm irrtümlich an, der tote Mann wolle mitspielen. Er trat lächelnd zwei Schritte auf ihn zu, erstarrte aber, als er die Hände aus den Manteltaschen kommen sah. Die linke Hand war leicht geöffnet. Die Rechte war zur Faust geballt, der Daumen darüber abgewinkelt. Trotzdem zögerte Gabriel noch. Was war, wenn es keinen Zündknopf gab? Was war, wenn die Faust einen Kugelschreiber oder ein Röhrchen mit Lippenbalsam umschloss? Gabriel musste sich seiner Sache sicher sein. Sag mir, was du vorhast, dachte er . Hinterlasse deine Signatur.
Der tote Mann drehte sich langsam nach den Zuschauern um. Die Gäste auf dem Balkon des Punch & Judy und viele der auf der Piazza stehenden Zuschauer lachten nervös. In Gedanken blendete Gabriel das Lachen aus und ließ diese Szene erstarren. Vor seinen Augen erschien sie wie von Canaletto gemalt. Die Personen der Handlung standen unbeweglich da. Nur Gabriel, der Restaurator, konnte sich frei zwischen ihnen bewegen. Er schlüpfte durch die vorderste Zuschauerreihe und konzentrierte sich auf die Stelle am Hinterkopf des Attentäters. Ein Schuss von schräg oben würde nicht möglich sein. Aber potenzielle Kollateralschäden ließen sich theoretisch auch anders vermeiden. Bei einem Schuss von unten würde das Geschoss über die Köpfe der Zuschauer hinweggehen und in die nächste Fassade einschlagen. Er stellte sich den Handlungsablauf vor – die links steckende Pistole mit der rechten Hand ziehen, tief in die Hocke gehen, zwei oder drei Schüsse abgeben, nach vorn stürmen – und wartete darauf, dass der tote Mann seine Signatur hinterlassen würde.
Die Stille in Gabriels Kopf wurde durchbrochen, als ein angeheiterter Gast auf dem Balkon des Punch & Judy grölte – ein Aufruf an den Märtyrer, dass er Platz machen solle, damit die Vorführung weitergehen könne. Der tote Mann reagierte darauf, indem er die Arme wie ein Langstreckenläufer, der das Zielband zerreißt, über den Kopf hob. An der Innenseite des rechten Handgelenks war eine dünne Litze zu erkennen, die vom Zündknopf zu dem Sprengsatz führte. Mehr Beweise brauchte Gabriel nicht. Seine Hand umfasste den Griff der Beretta unter seiner Jacke. Als der tote Mann »Allahu akbar!« rief, ließ Gabriel sich auf ein Knie sinken und zielte auf ihn. Erstaunlicherweise hatte er freies Schussfeld, sodass keine Gefahr bestand, einen Unbeteiligten zu treffen. Aber als er eben abdrücken wollte, zogen zwei kräftige Hände den Arm mit der Pistole nach unten, und das Gewicht zweier Männer drückte ihn aufs Pflaster.
In dem Augenblick, in dem Gabriel zu Boden fiel, hörte er einen scharfen Knall wie einen Donnerschlag und spürte, wie eine heiße Druckwelle über ihn hinwegfegte. Zunächst herrschte sekundenlang Stille. Danach setzten die Schreie ein: erst ein
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