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Der Hintermann

Der Hintermann

Titel: Der Hintermann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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einzelnes lautes Kreischen, dann auftosendes Wehklagen. Gabriel hob den Kopf und sah eine Szene aus seinen Albträumen. Überall Körperteile und Blut. Dies war Bagdad an der Themse.

7
    N EW  S COTLAND Y ARD , L ONDON
    Ein professioneller Geheimagent, auch wenn er pensioniert ist, kann kaum eine größere Sünde begehen, als sich von der örtlichen Polizei verhaften zu lassen. Weil Gabriel lange in dem Schattenreich zwischen gewöhnlicher und geheimer Welt gelebt hatte, war ihm das öfter passiert als den meisten seiner Kollegen. Aus Erfahrung wusste er, dass es bei solchen Gelegenheiten ein bestimmtes Ritual gab, eine Art Kabukitanz, der aufgeführt werden musste, bevor höhere Stellen eingreifen konnten. Er kannte den Ablauf gut. Zum Glück taten das auch seine Gastgeber.
    Binnen Minuten nach dem Anschlag in London war er festgenommen und in rasender Fahrt zum New Scotland Yard, der Zentrale des Metropolitan Police Service, gebracht worden. Dort wurde er in einen fensterlosen Vernehmungsraum gesetzt, wurde wegen seiner Schürf- und Platzwunden behandelt und bekam eine Tasse Tee, die er unberührt stehen ließ. Wenig später traf ein Superintendent der Abteilung Terrorismusbekämpfung ein. Er begutachtete Gabriels Ausweise mit der Skepsis, die sie verdienten, und versuchte dann festzustellen, was »Mr.   Rossi« dazu veranlasst hatte, auf dem Covent Garden Market eine verdeckt getragene Waffe zu ziehen, kurz bevor ein Terrorist seinen Sprengstoffgürtel gezündet hatte. Gabriel war versucht, selbst ein paar Fragen zu stellen. Vor allem interessierte ihn, weshalb zwei bewaffnete Angehörige der Met-Sondereinheit SO19 sich dafür entschieden hatten, ihn auszuschalten – statt den offenkundigen Terroristen, der dabei war, zahlreiche Unbeteiligte mit in den Tod zu reißen. Stattdessen nannte er als Antwort auf alle Fragen des Kriminalbeamten eine Telefonnummer. »Rufen Sie dort an«, sagte er und tippte auf die Stelle im Notizbuch des Mannes, wo dieser sie aufgeschrieben hatte. »Das Telefon wird in einem sehr großen Gebäude nicht weit von hier klingeln. Den Namen des Mannes, der sich meldet, werden Sie kennen. Zumindest sollten Sie das.«
    Gabriel wusste nicht, welcher Polizeibeamte schließlich diese Nummer wählte, und hatte keine Ahnung, wann der Anruf endlich erfolgt war. Er wusste nur, dass er länger als unbedingt nötig im New Scotland Yard festgehalten wurde. Tatsächlich war es fast Mitternacht, als ein Kriminalbeamter ihn durch hell beleuchtete Flure zum Eingang des Gebäudes führte. In der linken Hand trug sein Begleiter einen braunen Umschlag. Nach Form und Größe enthielt er keine 9-mm-Pistole von Beretta.
    Draußen war das nachmittags noch so freundliche Wetter in prasselnden Regen umgeschlagen. Unter dem Glasvordach wartete mit leise schnurrendem Motor ein viertüriger Jaguar mit Fahrer. Gabriel ließ sich den Umschlag geben und öffnete die hintere Tür der Limousine. Mit elegant übereinandergeschlagenen Beinen saß darin ein Mann, der wie geschaffen für seine Rolle war. Er trug einen perfekt sitzenden anthrazitgrauen Anzug mit silbergrauer Krawatte, die zu seiner Haarfarbe passte. Der Ausdruck seiner hellen Augen war normalerweise nicht zu deuten, aber jetzt verrieten sie Erschöpfung nach einem langen, schwierigen Abend. Als stellvertretender MI5-Direktor trug Graham Seymour einen Großteil der Verantwortung für den Schutz des Vereinigten Königreichs vor den Kräften des extremistischen Islams. Und trotz aller Bemühungen seiner Leute hatte der extremistische Islam wieder einmal gesiegt.
    Obwohl die beiden Männer viele Jahre beruflich zusammengearbeitet hatten, wusste Gabriel nur wenig über Graham Seymours Privatleben. Er wusste, dass Seymour mit einer Frau namens Helen verheiratet war, die er liebte und bewunderte, und einen Sohn hatte, der als Vermögensverwalter in der New Yorker Filiale einer angesehenen englischen Bank arbeitete. Was Gabriel sonst über Seymour wusste, stammte aus der riesigen Datenbank des Diensts. Er war aus Englands glorreicher Vergangenheit übrig geblieben, ein Produkt des gehobenen Mittelstands, dessen Kinder dazu erzogen worden waren, später Führungsaufgaben zu übernehmen. Er glaubte an Gott, aber ohne besonders fromm zu sein. Er glaubte an sein Land, war aber nicht blind gegenüber dessen Fehlern. Er war ein guter Golfer, war aber bereit, im Dienst einer guten Sache auch einmal gegen einen schwächeren Gegner zu verlieren. Er war ein Mann, der von vielen

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