Der Hintermann
ausgewandert, aber Farid ist in London geboren. Genauer gesagt in Stepney Green. Wie viele britische Muslime seiner Generation hat er die gemäßigten, apolitischen religiösen Überzeugungen seiner Eltern abgelehnt und ist Islamist geworden. Ende der Neunzigerjahre hat er ungewöhnlich viel Zeit in der East Londoner Moschee an der Whitechapel Road verbracht. Danach hat es nicht lange gedauert, bis er Vollmitglied radikaler Gruppierungen wie Hisb ut-Tahir und al-Muhadjiroun war.«
»Das klingt ganz so, als hätten Sie eine Akte über ihn.«
»Stimmt«, sagte Seymour, »aber nicht aus dem Grund, den Sie vielleicht vermuten. Farid Khan war ein Sonnenstrahl in der Finsternis, müssen Sie wissen, unsere Hoffnung für die Zukunft. Zumindest haben wir das geglaubt.«
»Sie haben geglaubt, Sie hätten ihn umgedreht?«
Seymour nickte. »Nicht lange nach dem 11. September hat Farid sich einer Gruppe angeschlossen, die sich Neuer Anfang nannte. Ihr Ziel war, Militante umzuprogrammieren und wieder in den Mainstream des islamischen und britischen öffentlichen Lebens zu integrieren. Farid hat als einer ihrer größten Erfolge gegolten. Er hat sich den Bart abrasiert. Er hat sich von alten Freunden losgesagt. Er hat das King’s College als einer der Jahrgangsbesten abgeschlossen und einen gut bezahlten Job bei einer Londoner Werbeagentur bekommen. Vor einigen Wochen hat er sich mit einer Frau aus seinem alten Viertel verlobt.«
»Also haben Sie ihn von Ihrer Liste gestrichen?«
»Sozusagen«, gab Seymour zu. »Jetzt scheint sich zu zeigen, dass alles nur ein cleveres Täuschungsmanöver war. In Wirklichkeit war Farid eine tickende Bombe, die darauf gewartet hat, detonieren zu können.«
»Irgendeine Idee, wer ihn aktiviert hat?«
»Wir sind gegenwärtig dabei, seine Telefon- und Computerdaten sowie sein hinterlassenes Bekennervideo auszuwerten. Klar ist, dass es einen Zusammenhang mit den Anschlägen in Paris und Kopenhagen gibt. Ob dahinter Reste der al-Qaida oder eine neue Gruppierung stecken, wird intensiv diskutiert. Aber Sie betrifft das alles nicht. Ihre Rolle in dieser Angelegenheit ist offiziell beendet.«
Der Jaguar fuhr über den Cavendish Place und hielt vor dem Eingang des Hotels Langham.
»Ich hätte gern meine Pistole wieder.«
»Ich will sehen, was sich machen lässt«, sagte Seymour.
»Wie lange muss ich hierbleiben?«
»Scotland Yard möchte, dass Sie übers Wochenende bleiben. Am Montagmorgen können Sie in Ihr Häuschen am Meer zurückfahren und an nichts anderes mehr denken als Ihren Tizian.«
»Woher wissen Sie von dem Tizian?«
»Ich weiß alles. Nur nicht genug, um einen in England geborenen Muslim daran zu hindern, einen Massenmord im Covent Garden zu verüben.«
»Ich hätte ihn daran hindern können, Graham.«
»Ja«, sagte Seymour reserviert. »Und wir hätten uns dafür revanchiert, indem wir Sie in Stücke gerissen hätten.«
Gabriel stieg wortlos aus. »Ihre Rolle in dieser Angelegenheit ist offiziell beendet«, murmelte er vor sich hin, als er die Hotelhalle betrat. Diesen Satz wiederholte er immer wieder wie ein Mantra.
8
N EW Y ORK C ITY
Am selben Abend befand das zweite Universum, das Gabriel Allon bewohnte, sich ebenfalls in Aufruhr, aber aus entschieden anderen Gründen. In New York begannen die Herbstauktionen. Eine aufregende Zeit, in der die Kunstwelt mitsamt ihrem Irrwitz und ihren Exzessen sich für zwei Wochen versammelt, um hektisch zu kaufen und zu verkaufen. Dies war, wie Nicholas Lovegrove zu sagen pflegte, einer der wenigen verbliebenen Anlässe, bei dem es noch als chic galt, stinkreich zu sein. Zugleich war das Ganze ein todernstes Geschäft. Große Sammlungen würden aufgebaut, große Vermögen vermehrt oder verschleudert werden. Eine einzige Transaktion konnte der Startschuss zu einer brillanten Karriere sein. Oder eine zerstören.
Lovegroves professioneller Ruf war wie der Gabriel Allons längst gefestigt. Der geborene Brite galt als der meistbegehrte Kunstberater der Welt – ein so mächtiger Mann, dass er Märkte mit einer hingeworfenen Bemerkung oder einem Rümpfen seiner eleganten Nase in Bewegung versetzen konnte. Seine Kunstkenntnis war ebenso legendär wie das Vermögen auf seinem Bankkonto. Lovegrove brauchte sich nicht länger um Klienten zu bemühen. Sie kamen demütig zu ihm und versprachen ihm hohe Provisionen. Das Geheimnis seines Erfolgs lag in seinem unfehlbaren Auge und seiner Diskretion. Lovegrove beging nie einen Vertrauensbruch.
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