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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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still da und sah uns beide an. ›Also, meine Freunde…‹ Bora machte sich zum Aufbruch bereit. Er zog etwas Geld aus dem Nichts –, dachte ich – und schob es unter den Rand seines Tellers. Dann hob er ein letztes Mal sein Glas und trank den Rest seines Tees aus. ›Adieu, bis morgen.‹
    ›Wo sollen wir Sie treffen?‹, fragte ich.
    ›Oh, ich werde Sie hier abholen. Sagen wir um zehn am Vormittag? Gut. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.‹ Er verbeugte sich und war auch schon verschwunden. Kurz darauf sah ich, dass er kaum etwas gegessen hatte. Er hatte unsere Rechnung mitbezahlt und uns den Talisman gegen den bösen Blick dagelassen – er leuchtete auf dem weißen Tischtuch.
    Nach den Anstrengungen der Reise und unserer kleinen Tour schlief ich in dieser Nacht wie der sprichwörtliche Tote. Als mich der Lärm der Stadt aufweckte, war es bereits halb sieben. Mein kleines Zimmer lag im Dämmerlicht. Im ersten Moment, als mein Blick über die gekalkten Wände, das einfache, fremde Mobiliar und den hellen Spiegel über dem Waschbecken glitt, verspürte ich eine merkwürdige Verwirrung. Ich dachte an Rossis Aufenthalt hier in Istanbul, sein Zimmer in seinem Hotel – wo war es gewesen? –, in der man sein Gepäck durchwühlt und seine Kopien der wertvollen Karten gestohlen hatte, und es kam mir so vor, als wäre ich selbst dort gewesen, als erlebte ich das alles jetzt, in diesem Moment. Aber dann begriff ich, dass alles friedlich war und die Dinge sich am rechten Platz befanden: Mein Koffer lag noch so auf der Kommode wie zuvor und, was wichtiger war, auch meine Aktentasche mit ihrem wertvollen Inhalt stand unberührt gleich neben dem Bett. Ich brauchte nur die Hand danach auszustrecken. Selbst noch im Schlaf war ich mir irgendwie des alten, schweigsamen Buchs darin bewusst gewesen.
    Ich konnte Helen im Bad auf dem Gang hören, hörte das Wasser laufen und sie sich bewegen. Dann, mit einem Mal, hatte ich das Gefühl, sie zu belauschen, und schämte mich dafür. Schnell stand ich auf, ließ Wasser in das Waschbecken meines Zimmers und wusch mir Gesicht und Arme. Mein Gesicht im Spiegel kam mir wie gewohnt vor – und wie jung ich mich in jenen Tagen fühlte, meine liebe Tochter, kann ich dir nicht wirklich erklären. Meine Augen wirkten nach der Reise zwar noch leicht verschlafen, waren aber wachsam. Ich gab etwas von dem damals von allen verwandten Öl in meine Haare, kämmte sie flach und glänzend zurück und stieg in meine verknitterten Hosen. Ich zog ein frisches, ebenfalls leicht knitteriges Hemd an, band eine Krawatte um und schlüpfte in mein Jackett. Ich rückte mir die Krawatte noch einmal zurecht, und als ich aus dem Bad nichts mehr hörte, nahm ich mein Rasierzeug, überwand mich und klopfte fest an die Tür. Niemand antwortete, und so trat ich ein. Helens Geruch, ein ziemlich strenges, billig riechendes Parfüm, vielleicht eines, das sie von zu Hause mitgebracht hatte, hing noch in dem kleinen Raum. Ich hatte es mit der Zeit fast lieb gewonnen.
    Zum Frühstück im Restaurant gab es sehr starken Kaffee in einem Kupferkännchen mit einem langen Griff, Brot, salzigen Käse und Oliven sowie eine Zeitung, die wir nicht lesen konnten. Helen aß und trank schweigend, und ich ließ die Gedanken wandern, während mir der Zigarettenrauch in die Nase stieg, der aus der Ecke des Kellners herüberzog. Das Restaurant war noch leer, nur die Sonne sandte ein paar Strahlen durch die Spitzbogenfenster. Und auch das geschäftige Hin und Her auf der Straße draußen füllte den Raum mit angenehmen Geräuschen und den Blicken von Leuten auf dem Weg zur Arbeit oder mit Körben voller Obst und Gemüse. Instinktiv hatten wir einen Tisch möglichst weit von den Fenstern gewählt.
    ›Der Professor wird erst in zwei Stunden kommen‹, sagte Helen, gab reichlich Zucker in ihren zweiten Kaffee und rührte ihn kräftig um. ›Was sollen wir bis dahin machen?‹
    ›Ich dachte, wir könnten noch einmal zur Hagia Sophia gehen‹, sagte ich. ›Ich würde sie mir gern noch einmal ansehen.‹
    ›Warum nicht?‹, murmelte sie. ›Ich habe nichts gegen ein bisschen Tourismus, während wir hier sind.‹ Sie sah ausgeruht aus und trug eine frische hellblaue Bluse unter ihrem schwarzen Kostüm. Es war die erste Farbe, die ich an ihr sah, die erste Ausnahme von ihrem gewohnten Schwarz und Weiß. Auch heute trug sie ein kleines Tuch über der Stelle, wo der Bibliothekar sie in den Hals gebissen hatte. In ihrem Gesicht spiegelte

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