Der Historiker
sah mich wieder an, wobei er sich zurück in seinen Sitz lehnte. »Im Übrigen habe ich das Gefühl, dass Paris noch längst nicht dein Ziel ist. Ob du mir vielleicht sagen könntest, wohin du von dort aus willst?«
»Hätte Professor Bora uns dort in dem so angenehmen Restaurant in Istanbul beiden einen Schlag ins Gesicht versetzt, hätten wir nicht verblüffter sein können als durch diese Geschichte über sein ›exzentrisches Hobby‹. Wir waren hellwach. Meine Müdigkeit durch die Zeitverschiebung war wie weggeblasen und damit auch das Gefühl von Aussichtslosigkeit, mehr über Draculas Grab zu erfahren. Hier waren wir genau richtig. Vielleicht – mein Herz machte einen Satz, und es fühlte sich nicht nur wie eine bloße Hoffnung an –, vielleicht befand sich Draculas Grab ja sogar in der Türkei.
Der Gedanke war mir nie zuvor gekommen, aber jetzt schien er mir durchaus vernünftig zu sein. Schließlich war Rossi genau hier von einem von Draculas Handlangern ernsthaft zurechtgewiesen worden. War es möglich, dass die Untoten nicht nur das Archiv, sondern auch sein Grab bewachten? Konnte die Allgegenwärtigkeit der Vampire hier in dieser Stadt, die Turgut Bora angesprochen hatte, darauf zurückzuführen sein, dass Dracula sie noch immer besetzt hielt? Ich vergegenwärtigte mir noch einmal, was ich bereits über Wirken und Legende von Vlad dem Pfähler wusste. Wenn er in seiner Jugend in der Türkei gefangen gewesen war, konnte er dann nicht nach seinem Tod an den Ort seiner frühen Folterausbildung zurückgekehrt sein? Womöglich hatte er eine Art Heimweh nach diesem Land verspürt, so wie manche Leute am Ende ihres Lebens in die Gegend zurückkehren, in der sie aufgewachsen sind. Und wenn man Stokers Roman, was die Aufzeichnung der Gewohnheiten eines Vampirs anging, trauen konnte, dann war es diesem Teufel absolut möglich, auch einen fern gelegenen Ort zu erreichen und sein Grab dort einzurichten, wo immer er mochte. Im Roman reiste er in seinem Sarg nach England. Warum sollte er da nicht auf die eine oder andere Weise nach Istanbul gekommen sein? Als nächtlicher Reisender, der nach seinem Ableben bis ins Herz jenes Reiches zieht, dessen Heere ihm den Tod gebracht haben? Das wäre eine passende Rache an den Osmanen gewesen.
Aber ich konnte Bora noch keine dieser Fragen stellen. Wir hatten ihn gerade erst kennen gelernt, und ich war mir nach wie vor nicht sicher, ob wir ihm trauen konnten. Er schien aufrichtig zu sein, und doch war die Tatsache, dass er mit diesem ›Hobby‹ ausgerechnet an unseren Tisch gekommen war, im Grunde zu sonderbar, um mit Fassung getragen zu werden. Er sprach jetzt mit Helen, und sie antwortete ihm auch. ›Nein, liebe Madam, ich weiß sicher nicht alles über Dracula und seine Geschichte. Tatsächlich ist mein Wissen alles andere als umfassend. Aber ich nehme an, dass er großen Einfluss auf unsere Stadt hatte, was das Böse angeht, und das lässt mich auch weiterforschen. Und Sie, meine Freunde?‹ Er sah neugierig von Helen zu mir. ›Sie scheinen selbst eine gehörige Portion Interesse an meinem Thema zu haben. Womit beschäftigt sich Ihre Dissertation genau, junger Mann?‹
›Mit dem holländischen Merkantilismus im siebzehnten Jahrhunderts sagte ich lahm. Wenigstens in meinen Ohren klang es lahm, und ich fragte mich mittlerweile, ob es nicht immer schon ein fades Unternehmen gewesen war. Holländische Kaufleute zogen nun mal nicht brandschatzend durch die Jahrhunderte, unterjochten Völker und stahlen ihnen ihre unsterblichen Seelen.‹
›Ah.‹ Turgut Bora schien etwas verwirrt. ›Nun‹, sagte er endlich, ›wenn Sie sich darüber hinaus auch für die Geschichte Istanbuls interessieren, können Sie morgen mit mir kommen und sich die Sammlung von Sultan Mehmed ansehen. Er war ein herrlicher alter Tyrann und hat viele interessante Dinge gesammelt, nicht nur das, was mir so gut gefällt. Aber jetzt muss ich nach Hause zu meiner Frau, da sie bestimmt schon ganz in Auflösung ist: Ich bin viel zu spät dran.‹ Er strahlte, als sei die Aussicht auf ihren Zustand äußerst angenehm. ›Sie wird sich sicherlich wünschen, dass Sie uns morgen zum Abendessen beehren, genau wie ich es tue.‹ Ich dachte darüber einen Moment nach. Türkische Ehefrauen mussten noch so unterwürfig sein wie die Haremsdamen in Märchen und Legenden. Oder meinte er nur, dass seine Frau so gastfreundlich sei, wie er es selbst war? Ich wartete darauf, dass Helen abwehrend schnaufte, aber sie saß
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