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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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sich eine Art wachsamer Ironie, und es kam mir so vor – ohne eigentlichen Grund –, dass sie sich an meine Gegenwart gewöhnte und etwas von ihrer Grimmigkeit verloren hatte.
    Als wir hinaustraten, waren die Straßen voller Menschen und Autos, und wir mischten uns unter sie, wanderten durch das Herz der Altstadt und auf einen der Basare. Alles war voller Menschen. Alte schwarz gewandete Frauen befühlten erlesene Stoffe in allen Regenbogenfarben. Junge Frauen in kräftigen, schreienden Farben, mit einem Tuch um den Kopf, feilschten um Früchte, die ich nie zuvor gesehen hatte, oder begutachteten Auslagen mit goldenem Schmuck. Alte Männer mit gehäkelten Kappen auf dem weißen Haar oder Glatzen lasen Zeitung oder beugten sich vor, um eine Auswahl geschnitzter Holzpfeifen in Augenschein zu nehmen. Einige von ihnen trugen Gebetsschnüre in den Händen. Wohin ich auch blickte, sah ich gut und klug aussehende olivenfarbene Gesichter mit markanten Zügen, gestikulierende Hände, deutende Finger und hier und da im allerorten aufflackernden Lächeln einen Goldzahn. Überall um uns herum waren entschiedene, selbstgewisse, feilschende Stimmen zu hören und manchmal auch ein Lachen.
    Helen trug ihr leicht abwesendes, unechtes Lächeln vor sich her und erweckte so den Eindruck, als gefiele ihr das alles, aber als durchschaute sie es auch nur allzu gut. Mir gefiel die Szenerie ebenfalls, aber auch ich verspürte nach wie vor die nervöse Unruhe, die ich seit knapp einer Woche mit mir herumtrug und die mich an öffentlichen Orten nicht mehr verließ. Sie ließ mich die Menge studieren, Blicke über meine Schulter werfen und die Gesichter nach guten oder schlechten Absichten absuchen. Vielleicht fühlte ich mich auch beobachtet. Es war ein unangenehmes Gefühl, ein harscher Kontrapunkt zu den lebhaften Gesprächen um uns herum, und nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich mich nicht von Helens zynischer Sicht der Menschen anstecken ließ. War ihr diese Haltung angeboren, oder war sie das Ergebnis ihres Aufwachsens in einem Polizeistaat?
    Wo immer sie herrühren mochte, ich empfand meine eigene Paranoia als einen Angriff auf mein früheres Selbst. Noch vor einer Woche war ich ein normaler amerikanischer Doktorand gewesen, zufrieden mit der Unzufriedenheit über meine Arbeit und voller Genugtuung über das Gedeihen und die moralische Integrität meiner Kultur, wenn ich auch vorgab, sie wie alles andere in Frage zu stellen. Durch Helen und ihre desillusionierte Haltung war für mich mit einem Mal der Kalte Krieg greifbar geworden, und noch ein älterer Kalter Krieg machte sich in meinen Adern breit. Ich dachte an Rossi, der 1930 durch diese Straßen gegangen war, bevor ihn sein Abenteuer in dem Archiv Hals über Kopf aus Istanbul abreisen ließ, und er schien mir ebenso greifbar – nicht nur der Rossi, wie ich ihn erlebt hatte, sondern der junge Rossi, wie ich ihn aus seinen Briefen kannte.
    Helen klopfte mir auf den Arm und nickte in Richtung einiger alter Männer, die neben einem Stand an einem kleinen Tisch saßen. ›Schau, das ist die Verkörperung unserer Theorie von Muße‹, sagte sie. ›Es ist neun Uhr morgens, und sie spielen bereits Schach.‹ Tatsächlich stellten gerade zwei Männer ihre Figuren auf einem abgewetzten alten hölzernen Brett auf. Schwarz gegen Elfenbein, Springer und Türme zum Schutz ihrer Herrschaft, die Bauern einander in Kampfformation gegenüber. Wie überall in der Welt, dachte ich und wandte den Blick ab. ›Kennst du dich mit Schach aus?‹, fragte Helen.
    ›Natürlich‹, sagte ich etwas beleidigt. ›Ich habe früher mit meinem Vater gespielt.‹
    ›Ah.‹ Sie klang bitter, und ich erinnerte mich zu spät daran, dass es für sie als Kind so etwas nicht gegeben hatte und sie stattdessen eine andere Art Schach mit ihrem Vater spielte – mit dem Bild, das sie von ihm hatte. Aber sie schien sich in akademischen Gedanken zu ergehen. ›Es ist kein westliches Spiel, weißt du, sondern ein uraltes Spiel, das aus Indien stammt. Shahmat, sagen sie auf Persisch; schachmatt, sagt man bei euch. Shah ist das persische Wort für König. Ein Kampf der Könige.‹
    Ich sah den beiden Männern zu, wie sie ihr Spiel begannen und ihre knorrigen Finger die ersten Figuren in den Kampf schickten. Sie scherzten miteinander, wahrscheinlich waren sie alte Freunde. Ich hätte den ganzen Tag dort stehen und zusehen können, aber Helen strebte rastlos weiter, und ich folgte ihr. Erst als wir an ihnen

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