Der Historiker
studiert hatte.
Während wir Bora durch die Straßen folgten, erklärte er uns, dass das Archiv Sultan Mehmeds nicht im Hauptgebäude der Nationalbibliothek untergebracht sei, obwohl es immer noch vom Staat gepflegt werde. Es befinde sich heute in einem Bibliotheksanbau, einer ehemaligen medrese, einer traditionellen Koranschule. Atatürk habe diese Schulen bei seiner Säkularisation des Landes geschlossen, und gegenwärtig beherbergte diese hier den Bestand an seltenen und alten Büchern der Nationalbibliothek zur Geschichte des Osmanischen Reiches. Sultan Mehmeds Sammlung sei eine von vielen aus der Zeit der osmanischen Expansion.
Der Bibliotheksanbau erwies sich als erlesenes kleines Gebäude. Wir betraten es von der Straße aus durch messingbeschlagene hölzerne Türen. Die Fensteröffnungen waren mit durchbrochenen, dünn geschliffenen Marmorplatten geschlossen, durch die in schönen geometrischen Formen das Sonnenlicht hereinfiel und den Boden der dämmrigen Eingangshalle mit Sternen und Achtecken schmückte. Bora zeigte uns, wo wir uns einzutragen hatten. Das Buch lag auf einer Theke beim Eingang. Helen schrieb ihren Namen völlig unleserlich, wie ich bemerkte, Bora selbst trug sich mit elegantem Schwung ein.
Dann traten wir in den Hauptraum der Sammlung, einen großen Raum mit gedämpfter Atmosphäre unter einer Kuppel mit grünweißen Mosaiken. Polierte Tische standen in einer langen Reihe, und ein paar Männer arbeiteten bereits an ihnen. An den Wänden standen nicht nur Regale mit Büchern, sondern auch mit hölzernen Kisten und Kästen sowie Schränke mit Schubladen, und von der Decke hingen feine Messinglampen, die elektrisches Licht verströmten. Der Bibliothekar, ein schlanker Mann von etwa fünfzig Jahren, der eine Gebetsschnur um das Handgelenk trug, stand von seiner Arbeit auf, kam herüber und schüttelte Boras Hände, indem er sie mit seinen umschloss. Sie sprachen vielleicht eine Minute, wobei ich Bora den Namen unserer Universität nennen hörte, und schließlich wandte sich der Bibliothekar in türkischer Sprache an uns, lächelte und verbeugte sich. ›Das ist Mr Erozan. Er heißt Sie in der Sammlung Willkommen‹, erklärte uns Turgut Bora mit befriedigtem Gesichtsausdruck. ›Er wird gleich einen Anschlag auf Sie verüben.‹ Ich schreckte ungewollt zurück, und Helen lächelte geziert. ›Er wird Ihnen Sultan Mehmeds Schriftstücke vom Drachenorden vorlegen. Aber erst müssen wir hier gemütlich sitzen und auf ihn warten.‹
Mit sorgfältig gewähltem Abstand von den bereits dort Arbeitenden, die flüchtig zu uns aufblickten und sich gleich wieder über ihre Unterlagen beugten, ließen wir uns an einem der Tische nieder. Nach einer Weile brachte Mr Erozan ein großes hölzernes Behältnis mit einem Vorhängeschloss und auf dem Deckel eingeschnitzten arabischen Schriftzeichen. ›Was steht da?‹, fragte ich den Professor.
›Ah.‹ Er berührte den Deckel mit den Fingerspitzen. ›Da steht: Hier ist Böses… hmmm… hier ist Böses enthalten – behaust. Verschließe es mit dem Schlüssel des heiligen Koran.‹ Mein Herz tat einen Satz. Das klang erstaunlich ähnlich wie das, was Rossi auf den Rändern der geheimnisvollen Karte gelesen und in dem alten Archiv, wo das Material einst bewahrt gewesen war, laut ausgesprochen hatte. Den Kasten selbst hatte er in seinen Briefen allerdings nicht erwähnt. Vielleicht hatte er ihn nie zu Gesicht bekommen, wenn ein Bibliothekar ihm die Dokumente daraus nur lose gebracht hatte. Vielleicht war es aber auch erst später, nach Rossis Aufenthalt, in diesen Holzkasten gelegt worden.
›Wie alt ist der Kasten?‹, fragte ich Turgut Bora.
Er schüttelte den Kopf. ›Ich weiß es nicht, und mein Freund hier auch nicht. Da er aus Holz ist, ist es meiner Meinung nach nicht sehr wahrscheinlich, dass er aus der Zeit Mehmeds stammt. Mein Freund hat mir einmal erklärt‹ – er strahlte in Mr Erozans Richtung, und der Mann strahlte zurück, ohne etwas zu verstehen –, ›dass die Dokumente so um 1930 in den Kasten kamen, um sie zu sichern. Er weiß das, da er mit seinem Vorgänger darüber diskutiert hat. Er ist äußerst sorgfältig, mein Freund.‹
1930! Helen und ich sahen uns an. Als Rossi im Dezember 1930 seine Briefe an ihren unbekannten Adressaten schrieb, waren die Dokumente, die er untersucht hatte, bereits in diesem Kasten gelandet. Ein einfacher Holzkasten hätte Mäuse und Feuchtigkeit ebenso abgehalten: Was hatte den Bibliothekar damals dazu
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