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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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gegründet. Nein! Der Sultan schrieb 1478 sogar einen Brief an den Pascha der Walachei und fragte ihn, ob er von irgendwelchen Schriftstücken über Dracula wisse. Warum? Weil – so sagte er – er eine Bibliothek stiften wolle, mit der sich das Böse bekämpfen lasse, das Dracula nach seinem Tod in unsere Stadt gebracht habe. Sehen Sie… Warum sollte der Sultan Dracula noch fürchten, wenn er doch tot war? Wenn er nicht geglaubt hätte, Dracula könne zurückkehren? Ich habe eine Kopie des Briefes gefunden, den ihm der Pascha zur Antwort schrieb.‹ Er schlug mit der Faust auf den Tisch und lächelte uns an. ›Ich habe sogar die Bibliothek gefunden, die er gründete, um das Böse zu bekämpfen.‹
    Helen und ich saßen bewegungslos da. Dieser Zufall war so merkwürdig, dass es kaum zu ertragen war. Endlich wagte ich eine Frage: ›Professor, ist diese Sammlung vielleicht von Sultan Mehmed II. gegründet worden?‹
    Jetzt war es an ihm, uns anzustarren. ›Alles, was Recht ist, Sie sind fürwahr ein ausgezeichneter Historiker. Interessieren Sie sich für diese Periode unserer Geschichte?‹
    ›Äh – sehr sogar‹, sagte ich. ›Und wir würden… Ich wäre sehr daran interessiert, dieses Archiv, das Sie da gefunden haben, zu besuchen.‹
    ›Natürlich‹, sagte er. ›Mit dem größten Vergnügen. Ich werde es Ihnen zeigen. Meine Frau wird sich wundern, dass es jemand sehen will.‹ Er musste lachen. ›Aber – es ist unglaublich! – das schöne Gebäude, in dem es einst untergebracht war, ist abgerissen worden, um für ein Büro des Verkehrsministeriums Platz zu schaffen… Oh, acht Jahre ist das nun her. Es war ein hübsches kleines Gebäude in der Nähe der Blauen Moschee. Solch eine Schande.‹
    Ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Deshalb also war es so schwer, Rossis Archiv zu finden. ›Aber die Unterlagen…‹
    ›Machen Sie sich keine Sorgen, lieber Herr. Ich selbst habe dafür gesorgt, dass sie in die Nationalbibliothek aufgenommen wurden. Auch wenn kein anderer sie so liebt wie ich, müssen sie doch erhalten werden.‹ Zum ersten Mal, seit er die Zigeunerin beschimpft hatte, huschte ein Schatten über sein Gesicht. ›Immer noch gilt es in unserer Stadt, das Böse zu bekämpfen, wie überall.‹ Er ließ den Blick zwischen uns hin und her wandern. ›Wenn Sie alte Kuriositäten mögen, werde ich Sie mit größtem Vergnügen morgen dorthin führen. Jetzt ist es natürlich geschlossen. Ich kenne den Bibliothekar gut, er wird Sie in der Sammlung herumstöbern lassen.‹
    ›Das ist sehr nett von Ihnen.‹ Ich traute mich nicht, Helen anzusehen. ›Und wie… wie sind Sie auf dieses so ungewöhnliche Thema gekommen?‹
    ›Oh, das ist eine lange Geschichte‹, antwortete Turgut Bora mit ernster Miene. ›Ich kann mir nicht erlauben, Sie damit zu langweilen.‹
    ›Aber Sie langweilen uns nicht‹, sagte ich.
    ›Sie sind sehr freundlich.‹ Schweigend saß er ein paar Minuten da und rieb seine Gabel zwischen Daumen und Zeigefinger. Draußen vor unserer steinernen Loggia drängten hupende Autos Radfahrer zur Seite, und Fußgänger kamen und gingen wie Schauspieler auf einer Bühne: Frauen mit wallenden, bunt bedruckten Röcken und Kopftüchern oder mit langen baumelnden goldenen Ohrringen, mit schwarzen Kleidern und rötlichem Haar, Männer in westlichen Anzügen, Krawatten und weißen Hemden. Eine Brise milder, salzig schmeckender Luft wehte bis zu uns an den Tisch, und ich stellte mir vor, wie Schiffe aus Europa und Asien ihr Frachtgut bis ins Herz eines zunächst christlichen, dann muslimischen Reiches brachten und in einer Stadt anlegten, deren Mauern bis ins Meer hineinreichten. Vlad Draculas in Wäldern gelegene Festung, seine barbarisch gewalttätigen Rituale, all das schien weit weg von dieser alten, kosmopolitischen Welt. Kein Wunder, dass er die Türken gehasst hatte und sie ihn, dachte ich. Die Türken von Istanbul, mit ihrem Gold, Messing und Seide verarbeitenden Handwerk, ihren Basaren, Buchläden und einer wahren Myriade von Gebetshäusern, mussten weit mehr gemein gehabt haben mit den christlichen Byzantinern, die sie unterjocht hatten, als Vlad Tepes der sie von seinen Grenzen zurückwarf. Aus der Sicht dieses Zentrums der Kultur wirkte er wie ein wilder Hinterwäldler, ein unterentwickeltes Monster, ein mittelalterlicher Prolet. Ich erinnerte mich an das Bild von ihm, das ich zu Hause gesehen hatte: den Holzschnitt eines eleganten Gesichts mit großem Schnurrbart, das

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