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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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einem vornehm gekleideten Mann gehörte. Es war paradox.
    Ich war ganz in Gedanken an dieses Bild versunken, als Bora wieder zu sprechen begann. ›Sagen Sie mir, meine Tischgenossen, und warum interessieren Sie sich für Dracula?‹ Mit einem vornehmen – oder argwöhnischen? – Lächeln gab er die Frage an uns zurück.
    Ich warf Helen einen Blick zu. ›Nun, im Rahmen meiner Doktorarbeit beschäftige ich mich mit dem Europa des fünfzehnten Jahrhunderts‹, sagte ich und wurde für meine fehlende Offenheit gleich mit dem Gefühl bestraft, dass diese Lüge bereits Wahrheit geworden sein mochte. Gott allein wusste, wann ich mich wieder an meine Dissertation machen würde, und das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war eine Ausweitung meines Themas. ›Aber Sie‹, hakte ich noch einmal nach, ›was hat Sie den Sprung von Shakespeare zu Vampiren machen lassen?‹
    Turgut Bora lächelte, und es schien mir ein trauriges Lächeln. ›Ah, das ist eine sehr merkwürdige Sache und lange her, wie ich schon sagte. Sehen Sie, ich arbeitete gerade an meinem zweiten Buch über Shakespeare, die Tragödien. Jeden Tag saß ich – wie sagt man? – in meiner kleinen Nische unseres englischen Seminars. Dort fand ich eines Tages ein Buch, wie mir nie zuvor eines begegnet war.‹ Er richtete sein trauriges Lächeln wieder auf mich. Mir war das Blut bereits in Armen und Beinen gefroren. ›Dieses Buch war wie kein anderes, es war ein leeres Buch, sehr alt, mit einem Drachen in der Mitte und einem Wort: Drakulya. Ich hatte bis dahin nie wirklich von Dracula gehört. Aber das Bild war so sonderbar und kraftvoll. Und da dachte ich, ich müsse alles darüber herausfinden. Also habe ich es versucht.‹
    Helen hatte die ganze Zeit regungslos dagesessen, aber jetzt kam Bewegung in sie, ihre Neugier war zu spüren. ›Alles?‹, fragte sie sanft.«
    Barley und ich waren fast in Brüssel angekommen. Es hatte mich einige Zeit gekostet – obwohl es mir nur Minuten gedauert zu haben schien –, Barley so einfach und klar, wie ich konnte, zu erklären, was mir mein Vater über seine Erfahrungen als Doktorand erzählt hatte. Barley sah an mir vorbei hinaus auf die kleinen belgischen Häuser und Gärten, die unter dem Wolkenvorhang traurig wirkten, obwohl sich von Zeit zu Zeit ein Sonnenstrahl durch seine Falten stahl und einen Kirchturm oder auch einen alten Fabrikschlot in Licht tauchte, während wir immer näher an Brüssel herankamen. Die Holländerin schnarchte ruhig, die Zeitschrift, in der sie zuletzt gelesen hatte, war ihr längst auf den Boden neben die Füße gerutscht.
    Ich wollte gerade auf die Ruhelosigkeit kommen, die meinen Vater seit einiger Zeit ergriffen hatte, als mir Barley plötzlich sein Gesicht zuwandte. »Das ist ungeheuer eigenartig«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum ich eine so wilde Geschichte glauben soll, aber ich tue es. Ich will es einfach.« Mir fiel auf, dass ich ihn nie zuvor wirklich ernst erlebt hatte – nur scherzend oder, kurz einmal, verärgert. Seine Augen, die so blau waren wie der Himmel, wurden schmal. »Das Komische ist, dass mich das alles an etwas erinnert.«
    »Was?« Mir wurde fast schwindlig vor Erleichterung darüber, dass er mir meine Geschichte ganz offenbar abkaufte.
    »Nun, das ist ja das Komische. Ich komme nicht darauf, woran es mich erinnert. An irgendetwas, das mit Rektor James zu tun hat. Aber was?«

 
    27
     
     
     
    Barley saß grübelnd in unserem Zugabteil, das Kinn in seine langfingrigen Hände gestützt, und versuchte vergeblich, sich an etwas im Zusammenhang mit Rektor James zu erinnern. Endlich sah er mich wieder an, und die Schönheit seines schmalen rosigen Gesichts, wenn es so ernst war wie jetzt, überwältigte mich. Ohne die irgendwann nervtötende Heiterkeit hätte es das Gesicht eines Engels oder vielleicht auch das eines Mönchs aus einem Kloster in Northumbria sein können. Ich war mir dieser Vergleiche aber zunächst nur vage bewusst, erst später erwachten sie für mich richtig zum Leben.
    »Nun«, sagte er endlich, »meiner Meinung nach gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder bist du verrückt, was bedeuten würde, dass ich bei dir zu bleiben habe und dafür sorgen muss, dass du sicher wieder nach Hause kommst, oder du bist es nicht, und das hieße, dass du auf dem besten Weg bist, dir eine Menge Ärger einzuhandeln, weswegen ich ebenfalls bei dir bleiben muss. Eigentlich müsste ich morgen in die Uni, aber da werde ich mir etwas einfallen lassen.« Er seufzte und

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