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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Zeitung verdeckte seinen Oberkörper und das Gesicht. Eine schwarze Aktentasche lag auf dem Sitz neben ihm.
    Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, es sei mein Vater, und eine Welle der Dankbarkeit und Verwirrung erfüllte mich. Dann sah ich die Schuhe des Mannes, die ebenfalls schwarz waren und sehr glänzend. An den Kappen war das Leder in einem eleganten Muster durchbrochen, und die Schnürbänder endeten in schwarzen Quasten. Der Mann hatte die Beine übereinander geschlagen, und er trug eine makellose schwarze Anzughose und feine schwarze Seidensocken. Das waren nicht die Schuhe meines Vaters. Im Übrigen stimmte etwas mit ihnen nicht, oder mit den Füßen, die in ihnen steckten, obwohl ich nicht hätte sagen können, woher mein Gefühl rührte. Wie hatte dieser fremde Mann einfach so ins Abteil kommen können, während ich schlief? Das war nicht richtig, dachte ich. Das hatte etwas Unangenehmes, und ich hoffte, er hatte mich nicht im Schlaf beobachtet. Ich überlegte, ob ich aufstehen und die Tür öffnen könnte, ohne dass der Mann es bemerkte. Dann stellte ich fest, dass er die Vorhänge zum Gang hin geschlossen hatte. Niemand, der durch den Wagon kam, konnte uns sehen. Oder hatte Barley sie zugezogen, bevor er ging, um mich schlafen zu lassen?
    Ich erhaschte einen Blick auf meine Uhr. Es war fast fünf. Draußen zog eine wunderbare Landschaft vorbei, wir kamen langsam in den Süden. Der Mann hinter der Zeitung war so ruhig, dass ich unwillkürlich zu zittern begann. Erst nach einer Weile begriff ich, was mir dabei solche Angst machte. Ich war nun schon einige Zeit wach, aber der Mann hatte noch nicht ein einziges Mal seine Zeitung umgeblättert.
    »Turgut Boras Wohnung lag in einem anderen Teil Istanbuls, am Marmarameer, und wir fuhren mit einer Fähre vom geschäftigen Hafen Eminonu dorthin. Helen stand an der Reling, beobachtete die Möwen, die dem Schiff folgten, und sah zurück auf die gewaltige Silhouette der Altstadt von Istanbul. Ich stellte mich neben sie, und Bora machte uns auf Türme und Kuppeln aufmerksam. Seine kräftige Stimme übertönte das Stampfen der Maschinen. Als wir die Fähre verließen, stellten wir fest, dass das Viertel, in dem er wohnte, moderner war als das, was wir bis jetzt von der Stadt gesehen hatten, wobei ›modern‹ in diesem Fall das neunzehnte Jahrhundert meint. Die Straßen wurden ruhiger, je weiter wir uns vom Fähranleger entfernten, und ich entdeckte ein zweites Istanbul, das neu für mich war: imposante, ausladende Bäume, schöne alte Stein- und Holzhäuser, Wohnhäuser, die aus einem Pariser Viertel hertransportiert schienen, saubere Bürgersteige, Blumenkübel und verzierte Gesimse. Hier und da zeigte sich das alte islamische Reich in Form eines zerfallenen Spitzbogens oder einer allein stehenden Moschee, eines türkischen Hauses mit vorspringendem erstem Stock. In Turgut Boras Straße jedoch hatte der Westen so vornehm wie gründlich alles eingenommen. Später sah ich in anderen Städten ähnliche Straßen – in Prag und Sofia, Budapest und Moskau, Belgrad und Beirut. Überall im Osten hatte man sich die gleiche Eleganz ausgeliehen.
    ›Bitte einzutreten.‹ Bora blieb vor einem dieser alten, vornehmen Häuser stehen, schob uns die Eingangsstufen hinauf und warf drinnen einen schnellen Blick in einen Briefkasten, der offenbar leer war und auf dem ›Professor Bora‹ stand. Er öffnete eine Wohnungstür und trat ein. ›Bitte, willkommen in meiner Behausung, wo alles Ihnen gehört. Ich bedaure, dass meine Frau sie nicht begrüßen kann – sie ist Kindergärtnerin.‹
    Wir kamen in eine Diele mit poliertem Holzboden und Holzwänden, wo wir Boras Beispiel folgten, unsere Schuhe auszogen und in bestickte Hausschuhe schlüpften, die er für uns hervorholte. Dann zeigte er uns das Wohnzimmer, und Helen stieß einen leisen Ton der Bewunderung aus, den ich nur wiederholen konnte.
    Der Raum wurde von einem angenehm grünlichen Licht erfüllt, in das sich sanftes Rosé und Gelb mischte. Nach einer Weile begriff ich, dass es Sonnenlicht war, das durch verschiedene Bäume draußen vor den zwei großen Fenstern gefiltert wurde, und dann noch einmal durch zarte Vorhänge aus alter weißer Spitze. Der Raum war mit außergewöhnlichen Möbelstücken ausstaffiert, sehr niedrigen gepolsterten Sitzmöbeln aus dunklem Holz mit Schnitzverzierungen, bezogen mit prächtigen Stoffen. An drei Wänden liefen Sitzbänke entlang, auf denen sich unzählige mit Spitzen besetzte

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