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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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saßen? Der Zufall ist mir einfach zu groß, dass Sie gerade in dem Moment dort auftauchten, als wir auch dort waren.‹
    Turgut Bora war aufgestanden und nahm eine kleine Messingdose von einem Beistelltischchen, öffnete sie und bot uns Zigaretten an. Ich lehnte ab, aber Helen nahm eine und ließ sich von Bora Feuer geben. Er steckte sich selbst auch eine an, setzte sich dann wieder, und sie betrachteten einander, so dass ich mich einen Moment lang ausgeschlossen fühlte. Der Tabak roch erlesen und war offenbar von bester Qualität. Gehörte das zum türkischen Luxus, der in den Vereinigten Staaten so berühmt war? Turgut stieß sanft den Rauch aus, und Helen schlüpfte aus ihren Hausschuhen und schlug die Beine unter, als wäre sie es gewohnt, es sich auf einem östlichen Diwan bequem zu machen. Das war ein Zug an ihr, dem ich noch nicht begegnet war, diese entspannte Anmut beim Annehmen von Gastfreundschaft.
    Endlich sprach Bora wieder. ›Wie kam es, dass ich Sie dort im Restaurant getroffen habe… Ich habe mir die Frage selbst schon ein paarmal gestellt, und auch ich habe keine Antwort darauf. Aber ich kann Ihnen mit aller Aufrichtigkeit sagen, meine Freunde, dass ich nicht wusste, wer Sie waren oder was Sie in Istanbul wollten, als ich mich an den Tisch neben Ihnen setzte. Ich gehe oft dorthin, manchmal sogar zwischen meinen Veranstaltungen, es ist mein Lieblingsrestaurant in dem alten Viertel. Gestern ging ich hin, ohne weiter darüber nachzudenken, und als ich dann nur zwei Fremde und sonst niemanden antraf, fühlte ich mich einsam und wollte nicht ganz allein hinten in der Ecke sitzen. Meine Frau sagt immer, ich bin ein hoffnungsloser Fall, weil ich überall Leute anspreche.‹
    Er lächelte und klopfte die Asche seiner Zigarette auf einen Kupferteller, den er anschließend in Helens Richtung schob. ›Aber das ist doch keine so schlechte Angewohnheit, oder? Und als ich dann von Ihrem Interesse an meinem Archiv erfuhr, war ich überrascht und bewegt, und jetzt, wo ich Ihre mehr als bemerkenswerte Geschichte gehört habe, fühle ich, dass ich Ihnen hier in Istanbul zur Seite stehen muss. Aber warum sind Sie in mein Lieblingsrestaurant gegangen? Warum ging ich mit meinem Buch dort zum Abendessen? Ich verstehe Ihren Argwohn, Madam, aber ich habe keine Antwort für Sie, ich kann nur sagen, dass dieser Zufall mir Hoffnung gibt. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde…‹ Er sah uns nachdenklich an, und sein Gesicht wirkte offen und ernst und mehr als nur ein wenig traurig.
    Helen blies eine Wolke türkischen Tabakrauchs in das gedämpfte Sonnenlicht. ›Also gut‹, sagte sie. ›Hoffen wir. Aber was machen wir nun mit unserer Hoffnung? Wir haben die Originalkarten gesehen und auch die Bibliografie des Drachenordens, die Paul so unbedingt sehen wollte. Aber wohin hat uns das gebracht?‹
    ›Kommen Sie mit mir‹, sagte Bora plötzlich. Er stand auf, und die letzte Muße des Nachmittags war damit verschwunden. Helen drückte ihre Zigarette aus und erhob sich ebenfalls, wobei ihr Ärmel über meine Hand strich. Ich folgte den beiden.
    ›Bitte kommen Sie für einen Moment in mein Arbeitszimmer.‹ Turgut Bora öffnete eine Tür zwischen den Falten alter Woll- und Seidenstoffe und trat höflich zur Seite.

 
    31
     
     
     
    Ich saß sehr, sehr still auf meinem Platz im Zug und starrte auf die Zeitung des Mannes mir gegenüber. Ich hatte das Gefühl, mich bewegen zu sollen, mich natürlich zu verhalten, um nicht seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, aber er saß so absolut bewegungslos, dass ich mir vorzustellen begann, ihn nicht einmal atmen zu hören, und schon fand ich es schwer, selbst zu atmen. Nach einem weiteren Moment wurde meine größte Sorge Wirklichkeit: Er sprach, ohne die Zeitung zu senken. Seine Stimme passte perfekt zu seinen Schuhen und der maßgeschneiderten Hose. Er sprach mich auf Englisch an, mit einem Akzent, den ich nicht verorten konnte, obwohl etwas Französisches in ihm lag – aber vielleicht verwirrten mich auch nur die Schlagzeilen, die über die Zeitung vor mir tanzten und sich vor meinem gequälten Blick verkrochen? Schreckliche Dinge waren in Kambodscha, Algerien und an Orten vorgefallen, von denen ich nie gehört hatte, und mein Französisch hatte sich im letzten Jahr zu sehr verbessert. Der Mann sprach hinter dem Gedruckten, ohne die Zeitung auch nur einen Millimeter zu verrücken. Meine Haut kribbelte, weil ich nicht glauben konnte, was ich da hörte. Die Stimme klang

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