Der Historiker
gewesen sei. Er sagte, ein ausländischer Professor habe sich einmal damit beschäftigt und sei plötzlich – wie sagen Sie? – sehr aufgesetzt gewesen, fast verrückt, und Hals über Kopf aus dem Gebäude gerannt. Ein paar Tage darauf dann, sagte der alte Bibliothekar, habe er, als er allein im Lesesaal gewesen und dort mit einer Arbeit beschäftigt gewesen sei, plötzlich einen großen Mann entdeckt, der dieselben Dokumente eingesehen habe. Niemand sei aber hereingekommen, und die Tür zur Straße sei verschlossen gewesen. Es war Abend, und die Öffnungszeiten waren längst vorüber. Er konnte nicht verstehen, wie der Mann hereingelangt war. Er dachte, vielleicht hätte er tatsächlich vergessen, die Tür zu verschließen, und nicht gehört, wie der Mann die Treppe herauf gekommen war, so unwahrscheinlich das schien. Dann, sagte er mir…‹ – Turgut Bora lehnte sich vor und senkte die Stimme noch ein wenig mehr –, ›er sagte, als er zu dem Mann hinüberging, um ihn zu fragen, was er da mache, habe der aufgeblickt und – sehen Sie? – es gab ein bisschen Blut, das ihm aus dem Mundwinkel tropfte.‹
Eine Welle der Abscheu stieg in mir hoch, und Helen hob die Schultern, als wollte sie einen Schauder abwehren. ›Der alte Bibliothekar hatte mir das zuerst nicht erzählen wollen, weil er Angst hatte, ich würde annehmen, er verlöre den Verstand. Er sagte, dass ihn der Anblick schwindeln ließ, und dann plötzlich sei der Mann verschwunden gewesen. Aber die Dokumente lagen immer noch auf dem Tisch. Am nächsten Tag dann kaufte er diesen geheiligten Kasten auf dem Markt und legte die Papiere hinein. Er hielt sie unter Verschluss und sagte, niemand habe während seiner Zeit als Bibliothekar mehr danach gefragt. Den seltsamen Mann hat er nie wieder gesehen.‹
›Und Rossi?‹, fragte ich.
›Nun, sehen Sie, ich war fest entschlossen, jede einzelne Spur dieser Geschichte zu verfolgen, also fragte ich nach dem Namen des ausländischen Forschers, aber der alte Bibliothekar konnte sich nicht daran erinnern, außer dass er dachte, es sei ein italienischer Name gewesen. Er riet mir, ich solle im Besucherbuch des Jahres 1930 nachsehen, wenn ich wolle, und mein Freund hier hat es mir erlaubt. Nach einiger Sucherei fand ich Professor Rossis Namen und sah, dass er aus England, aus Oxford, gekommen war. Also schrieb ich ihm nach Oxford.‹
›Hat er geantwortet?‹ Helen entriss Bora die Worte förmlich.
›Ja, aber er war nicht mehr in Oxford. Er war an eine amerikanische Universität gewechselt – Ihre, wenn ich bei unserem Gespräch auch nicht gleich die Verbindung gezogen habe –, und der Brief erreichte ihn nur mit großer Verspätung, und dann antwortete er. Er schrieb, es tue ihm Leid, aber er wisse nichts über das Archiv, von dem ich spräche, und könne mir nicht helfen. Ich werde Ihnen den Brief in meiner Wohnung zeigen, wenn Sie zum Essen kommen. Er kam noch kurz vor dem Krieg.‹
›Das ist äußerst seltsam‹, murmelte ich. ›Ich verstehe das einfach nicht.‹
›Aber das ist hier noch seltsamer.‹ In Boras Stimme lag Dringlichkeit. Er wandte sich erneut der Bibliografie auf dem Tisch zu, und sein Finger wanderte zu Rossis Namen ganz am Ende. Wieder sah ich die Worte hinter dem Namen. Es war Latein, da war ich sicher, auch wenn mein Latein, das ich in den ersten beiden Jahren am College gelernt hatte, nie sonderlich gut gewesen und obendrein bereits wieder ziemlich eingerostet war.
›Was steht da? Verstehen Sie Latein?‹
Zu meiner Erleichterung nickte Bora. ›Da steht: Bartolomeo Rossi, Der Geist … das Gespenst … in der Amphore.‹
Meine Gedanken wirbelten. ›Aber das kenne ich doch. Ich glaube, nein, ich bin sicher, das ist der Titel eines Aufsatzes, an dem er in diesem Frühjahr gearbeitet hat.‹ Ich unterbrach mich. ›Den er fertig gestellt hat. Er hat ihn mir vor ungefähr einem Monat gezeigt. Es geht um die griechische Tragödie und die Objekte, die in griechischen Theatern mitunter auf der Bühne als Requisiten gebraucht wurden.‹ Helen sah mich eindringlich an. ›Das ist… Ich bin sicher, damit beschäftigt er sich gerade.‹
›Was sehr, sehr eigenartig ist…‹, sagte Bora, und jetzt hörte ich auch Furcht in seiner Stimme. ›Ich habe dieses Verzeichnis so oft studiert, aber den Eintrag habe ich nie gesehen. Jemand muss Rossis Namen hinzugefügt haben.‹
Ich starrte ihn an. ›Finden Sie heraus, wer. Wir müssen herausbekommen, wer dieses Dokument verändert hat. Wann
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