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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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ich.
    ›Kommt, meine Gefährten.‹ Bora begann die Dokumente zurück in ihr hölzernes Behältnis zu legen und ging dabei mit einer Sanftheit vor, zu der ich in diesem Moment nicht fähig gewesen wäre. ›Mir scheint, dass wir Etliches ganz unter uns zu besprechen haben. Ich werde Sie in meine Wohnung führen, und dort können wir reden. Ich kann Ihnen da auch noch einige Dinge zeigen, die ich zu diesem Thema gesammelt habe. Lassen sie uns aber auf der Straße nicht darüber sprechen. Wir werden möglichst sichtbar von hier aufbrechen und‹ – er lächelte dem Bibliothekar zu – ›unseren fähigsten General in der entstandenen Lücke zurücklassen.‹ Mr Erozan schüttelte uns allen die Hände, verschloss den Kasten mit großer Sorgfalt und verschwand mit ihm zwischen den Bücherregalen auf der anderen Seite des Raumes. Ich sah ihm hinterher, bis er ganz unserem Blick entschwunden war, und seufzte unwillentlich laut auf. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Rossis Schicksal immer noch in diesem Holzkasten versteckt war – fast, als wäre er, Gott nochmal!, selbst darin begraben, und wir wären unfähig, ihn daraus zu erretten.
    Dann verließen wir das Gebäude, blieben auffällig ein paar Minuten draußen auf den Stufen stehen und taten so, als besprächen wir noch etwas. Meine Nerven flatterten, Helen sah blass aus, aber Bora war gefasst. ›Wenn er sich hier irgendwo herumtreibt‹, sagte er mit leiser Stimme, ›wird der kleine Schnüffler sehen, dass wir gehen.‹ Er bot Helen seinen Arm an, die sich weit weniger widerstrebend bei ihm einhakte, als ich vorausgesagt hätte, und wir machten uns auf den Weg durch die vollen Straßen. Es war Mittagszeit, und überall um uns herum stieg der Duft von gebratenem Fleisch und gebackenem Brot auf; er vermischte sich mit einem feuchten Geruch, der von Kohlenrauch oder Dieselbenzin herrühren mochte, einem Geruch, der mir manchmal heute noch ohne Vorwarnung in die Nase steigt und der für mich unverbrüchlich mit dem Rand der östlichen Welt verbunden ist. Was immer als Nächstes kam, dachte ich, es würde ein weiteres Rätsel sein, weil dieser ganze Ort – um mich herum sah ich türkische Gesichter, am Horizont jeder einzelnen Straße schlanke Minarette, zwischen den Feigenbäumen alte Kuppeln und Läden voller geheimnisvoller Waren –, weil dieser ganze Ort ein einziges Rätsel war.
    Das größte Rätsel von allen jedoch machte mir das Herz schwer, dass es schmerzte: Wo war Rossi? War er hier in dieser Stadt oder weit weg? Lebte er oder war er tot? Oder etwas dazwischen?

 
    30
     
     
     
    Um 4.02 Uhr würde der Express Richtung Perpignan den Bahnhof verlassen. Barley schwang seine Tasche in den Zug und streckte mir die Hand entgegen, um mich hinter sich die steilen Trittbretter hochzuziehen. In diesem Zug waren nur wenige Passagiere, und das Abteil, das wir fanden, gehörte auch, nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte, ganz allein uns. Ich wurde langsam müde. Wäre ich um diese Zeit zu Hause, würde Mrs Clay gerade ein Glas Milch und ein Stück Rührkuchen vor mich auf den Küchentisch stellen. Eine Sekunde lang vermisste ich ihre lästigen Dienste. Barley hatte sich neben mich gesetzt, obwohl er noch vier weitere Sitze zur Auswahl hatte, und ich steckte ihm meine Hand unter den Arm. »Ich sollte eigentlich etwas arbeiten«, sagte er, öffnete aber sein Buch nicht gleich. Der Zug wurde schneller, draußen zog die Stadt vorbei, und es gab zu viel zu sehen. Ich dachte an die vielen Male, die ich mit meinem Vater hier gewesen war; wie wir den Montmartre hochgestiegen waren und das unter Depressionen leidende Kamel im Jardin des Plantes betrachtet hatten. Jetzt kam mir das da draußen wie eine Stadt vor, die ich nie gesehen hatte.
    Ich sah, wie sich Barleys Lippen bei seiner Milton-Lektüre mitbewegten, wurde schläfrig, und als er sagte, er wolle in den Speisewagen, um eine Tasse Tee zu trinken, schüttelte ich bereits dösend den Kopf. »Du bist ein Wrack«, sagte er lächelnd. »Bleib hier und schlaf etwas. Ich nehme mein Buch mit. Wir können später immer noch mal hingehen, wenn du Hunger bekommst.«
    Meine Augen schlossen sich, kaum dass er das Abteil verlassen hatte. Als ich sie wieder öffnete, fand ich mich wie ein Kind auf meinem Sitz eingerollt. Meinen langen Baumwollrock hatte ich mir bis über die Füße gezogen. Mir gegenüber saß jemand und las Zeitung, und es war nicht Barley. Schnell setzte ich mich auf. Der Mann las Le Monde, und die

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