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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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ruhig und kultiviert und sie stellte nur eine einzige Frage: »Wo ist dein Vater, meine Liebe?«
    Ich sprang von meinem Platz hoch und zur Tür, hörte hinter mir seine Zeitung fallen, aber meine gesamte Konzentration war auf den Türgriff gerichtet. Es war nicht abgeschlossen. In einem Moment alles übersteigender Angst vermochte ich die Tür zu öffnen. Ohne mich umzublicken, schlüpfte ich hinaus und rannte in die Richtung, die Barley eingeschlagen hatte, um in den Speisewagen zu gehen. Gott sei Dank saßen hier und da Menschen in den Abteilen, Bücher, Zeitungen und Picknickkörbe neben sich, die Gesichter neugierig mir zugewandt, während ich an ihnen vorbeisauste. Ich konnte nicht einmal kurz innehalten, um auf Schritte hinter mir zu lauschen. Plötzlich dachte ich, dass ich unser Gepäck im Abteil gelassen hatte, oben im Gepäcknetz. Würde er es mitnehmen? Durchsuchen? Meine Handtasche hing an meinem Arm. Ich war mit ihr so über dem Handgelenk eingeschlafen, wie ich sie immer trug.
    Barley saß ganz hinten im Speisewagen, sein Buch offen vor sich auf einem breiten Tisch. Er hatte sich Tee bestellt und ein paar andere Dinge, und er brauchte einen Moment, um aus seinem kleinen Reich aufzutauchen und mich zu bemerken. Ich muss wild ausgesehen haben, weil er mich gleich zu sich herunterzog. »Was ist passiert?«
    Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und bemühte mich, nicht zu weinen. »Als ich aufwachte, saß ein Mann in unserem Abteil und las Zeitung, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen.«
    Barley strich mir durch das Haar. »Ein Mann mit einer Zeitung? Was regt dich daran so auf?«
    »Er ließ mich sein Gesicht nicht sehen«, flüsterte ich, drehte mich um und sah zum Eingang des Speisewagens hinüber. Aber da war niemand, keine schwarz gewandete Person, die suchend um sich blickte. »Aber er sprach mich hinter der Zeitung hervor an.«
    »Ja?« Barley schien herausgefunden zu haben, dass er meine Locken mochte.
    »Er fragte mich, wo mein Vater ist.«
    »Was?« Barley setzte sich gerade auf. »Bist du sicher?«
    »Ja, auf Englisch.« Ich richtete mich ebenfalls auf. »Ich bin weggerannt, aber ich glaube nicht, dass er mir gefolgt ist. Aber er ist noch im Zug. Ich musste unsere Taschen im Abteil zurücklassen.«
    Barley biss sich auf die Lippe. Fast erwartete ich, Blut durch seine weiße Haut quellen zu sehen. Dann machte er eine Geste zum Kellner hin, stand auf, sprach kurz mit ihm und fischte ein großzügiges Trinkgeld aus der Hosentasche, das er neben seine Tasse legte. »Der nächste Halt ist Boulois«, sagte er. »In sechzehn Minuten.«
    »Was ist mit unseren Taschen?«
    »Du hast deine Handtasche und ich habe meine Brieftasche.« Barley hielt plötzlich inne und sah mich an. »Die Briefe…«
    »Die sind in meiner Handtasche«, sagte ich schnell.
    »Gott sei Dank. Kann sein, dass wir unser Gepäck zurücklassen müssen, aber das macht nichts.« Barley nahm meine Hand, und wir gingen zum Ende des Speisewagens – und zu meiner Überraschung in die Küche. Der Kellner kam hinter uns her und drängte uns in eine kleine Nische neben den Kühlschränken. Barley deutete auf die Tür gleich daneben. Sechzehn lange Minuten verharrten wir so, und ich hielt meine Handtasche fest gepackt. Es schien nur natürlich, dass wir uns an diesem engen Ort wie zwei Flüchtlinge umschlungen hielten. Plötzlich erinnerte ich mich an das Geschenk meines Vaters und legte meine Hand darauf: Das Kruzifix hing um meinen Hals und war offen zu sehen. Kein Wunder, dass die Zeitung nicht gesenkt worden war.
    Endlich begann der Zug langsamer zu werden, die Bremsen zitterten und jaulten, und wir hielten an. Der Kellner drückte einen Hebel, und die Tür neben uns öffnete sich. Er lächelte Barley verschwörerisch zu. Wahrscheinlich glaubte er, es ginge um eine Liebeskomödie mit einem wütenden Vater, der uns im Zug verfolgte, etwas in dieser Art. »Steig aus dem Zug, aber bleib ganz nah an ihm stehen«, sagte Barley leise zu mir, und vorsichtig schoben wir uns auf das Pflaster des Bahnsteigs. Ich sah ein breites, stuckverziertes Bahnhofsgebäude unter silbrig glänzenden Bäumen, und die Luft war warm und roch süß. »Siehst du ihn?«
    Ich blickte den Zug entlang, bis ich ganz weit hinten unter den aussteigenden Reisenden eine große, breitschultrige Gestalt in Schwarz sah; mit ihr schien etwas falsch zu sein, sie hatte etwas Schattenhaftes, das mir den Magen umdrehte. Der Mann hatte sich einen dunklen Hut ins Gesicht gezogen,

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