Der Historiker
interessieren, die zum Teil unser eigenes Ich widerspiegeln, vielleicht den Teil, den wir am liebsten nicht näher untersuchen würden, es sei denn auf dem Feld unserer Wissenschaft. Und je mehr wir in unsere Interessen eintauchen, desto mehr ergreifen sie von uns Besitz. Als ich Jahre später eine amerikanische Universität – nicht meine – besuchte, wurde mir einer der besten amerikanischen Historiker für Nazi-Deutschland vorgestellt. Er lebte in einem komfortablen Haus am Rande des Campus, wo er nicht nur Bücher zu seinem Thema sammelte, sondern auch das offizielle Porzellan des Dritten Reichs. Seine Hunde, zwei große Deutsche Schäferhunde, bewachten Tag und Nacht seinen Vorgarten. Bei einem Umtrunk mit einigen Fakultätsmitgliedern in seinem Wohnzimmer erklärte er mir klar und deutlich, wie er Hitlers Verbrechen verabscheute und er sie der zivilisierten Welt so detailliert wie möglich vor Augen führen wollte. Ich verließ die Party früh, schlich mich vorsichtig an diesen großen Hunden vorbei, und es war mir unmöglich, meinen Abscheu abzuschütteln.
›Vielleicht denken Sie, das ist zu viel‹, sagte Bora leicht entschuldigend, als hätte er meine Gedanken gelesen, und zeigte immer noch auf den Knoblauch. ›Es ist nur so, dass ich hier nicht ohne jeden Schutz inmitten der üblen Gedanken der Vergangenheit sitzen mag. Aber jetzt lassen Sie mich Ihnen zeigen, weshalb ich Sie überhaupt hier hereingeführt habe.‹
Er lud uns ein, auf zwei wackligen Polsterstühlen Platz zu nehmen, die mit Damast bezogen waren. In die Rücklehne von meinem schien etwas – war es ein Knochen? – eingelegt zu sein, und ich vermied es, mich dagegen zu lehnen. Bora zog einen schweren Ordner aus einem der Bücherregale, dem er handgezeichnete Kopien der Dokumente entnahm, die wir im Archiv studiert hatten: Zeichnungen, die denen Rossis glichen, nur dass sie mit weit mehr Sorgfalt ausgeführt waren. Dann holte er einen Brief hervor, den er mir gab. Der Brief war auf Universitätspapier getippt und von Rossi unterschrieben. An der Echtheit der Unterschrift konnte kein Zweifel bestehen, dachte ich, das verschnörkelte B und das R waren mir vollkommen vertraut. Als der Brief verfasst worden war, hatte Rossi zweifellos in den Vereinigten Staaten gelehrt. Die wenigen Zeilen besagten genau das, was Bora uns gesagt hatte: Er, Rossi, wisse nichts von einem Archiv Sultan Mehmeds. Es tue ihm Leid, Professor Bora enttäuschen zu müssen, und er hoffe, dessen Arbeit führe zu guten Ergebnissen. Es war wirklich ein verwirrender Brief.
Als Nächstes zeigte Bora uns ein kleines altes Buch, das in Pergament gebunden war. Es fiel mir schwer, nicht gleich die Hand danach auszustrecken, aber ich wartete mit fieberhafter Selbstkontrolle, während Bora den Band vorsichtig öffnete, uns erst die leeren Seiten vorne und hinten zeigte und endlich den Holzschnitt in der Mitte, diese mir schon so vertraute Silhouette: den gekrönten Drachen mit seinen boshaft gespreizten Flügeln, die Klauen, die das Banner mit dem einen Wort, Drakulya, hielten. Ich öffnete meine Aktentasche und holte mein eigenes Exemplar heraus. Bora legte die beiden Bände nebeneinander auf seinen Schreibtisch. Jeder von uns verglich seinen Schatz mit dem bösen Geschenk des anderen, und wir sahen, dass die Drachen die gleichen waren. Beide füllten sie die Seiten bis an den Rand, Boras Drache war etwas dunkler, meiner etwas mehr verblichen, aber sie waren es – sie waren es. Neben der Spitze des Drachenschwanzes gab es bei beiden sogar einen ähnlichen Schmierfleck, als hätte der Holzschnitt dort eine raue Stelle gehabt, die beim Druck die Farbe etwas verwischt hatte. Helen brütete schweigend darüber.
›Es ist staunenswert‹, seufzte Turgut Bora schließlich. ›Nicht mal im Traum hätte ich geglaubt, je noch ein zweites Exemplar zu sehen.‹
›Und von einem dritten zu hören‹, erinnerte ich ihn. ›Der Holzschnitt in Rossis war der gleiche.‹
Er nickte. ›Und was, meine Gefährten, kann das bedeuten?‹ Aber er breitete schon die Kopien seiner Karten neben unseren Büchern aus und fuhr mit seinem großen Finger die Umrisslinien von Drachen, Flüssen und Bergen nach. ›Erstaunlich‹, murmelte er. ›Dass ich das nicht selbst gesehen habe. Das ist in der Tat ähnlich. Ein Drache, der eine Karte ist. Aber eine Karte wovon?‹ Seine Augen leuchteten.
›Genau das versuchte Rossi hier im Archiv herauszufinden‹, sagte ich mit einem Seufzen meinerseits. ›Wenn
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