Der Historiker
so dass man es nicht erkennen konnte. In der Hand hielt er eine schwarze Aktentasche und eine weiße Rolle, vielleicht die Zeitung. »Das ist er.« Ich wollte schon auf ihn zeigen, aber Barley schob mich schnell wieder die Trittbretter rauf.
»Nicht, dass er dich sieht. Ich beobachte, wohin er geht… Er sieht den Bahnsteig hinauf und hinunter.« Barley hielt mich fest am Arm gefasst. »Okay… Jetzt geht er in die andere Richtung. Nein, er kommt zurück. Er sieht in die Fenster. Ich glaube, er steigt wieder ein. Gott, ist der lässig… Jetzt sieht er auf die Uhr. Er steigt ein. Und jetzt steigt er noch mal aus und kommt in unsere Richtung. Halt dich bereit, wir steigen wieder ein und laufen durch den Zug vor. Bist du so weit?«
In diesem Augenblick setzten die Ventilatoren ein, und der Zug gab einen Seufzer von sich. Barley fluchte. »Verdammt, er steigt wieder ein. Ich glaube, ihm ist klar geworden, dass wir nicht wirklich ausgestiegen sind.« Plötzlich zog mich Barley von den Trittbrettern auf den Bahnsteig. Neben uns seufzte der Zug ein weiteres Mal und setzte sich in Bewegung. Etliche Passagiere hatten die Fenster heruntergeschoben und lehnten sich heraus, um zu rauchen oder sich umzusehen. Unter ihnen sah ich ein paar Wagons entfernt einen dunklen Kopf, der sich in unsere Richtung wandte: ein Mann mit eckigen Schultern, der, wie ich glaubte, vor kalter Wut schäumte. Der Zug nahm Geschwindigkeit auf und verschwand hinter einer Biegung.
Ich wandte mich Barley zu, und wir starrten einander an. Bis auf ein paar Dörfler, die in dem ländlichen Bahnhof saßen, waren wir allein, irgendwo mitten im Nirgendwo Frankreichs.
32
Halb hatte ich damit gerechnet, dass Turgut Boras Arbeitszimmer ein weiterer orientalischer Traum sein würde, der Hafen eines osmanischen Gelehrten, aber meine Vermutung war falsch. Der Raum, in den er uns führte, war weit kleiner als der, aus dem wir gerade gekommen waren, hatte aber eine ebenso hohe Decke, und im Tageslicht, das durch die zwei Fenster hereinfiel, war die Einrichtung klar zu erkennen. Zwei Wände standen in voller Höhe und Breite mit Büchern bedeckt. Schwarze bodenlange Samtvorhänge rahmten die Fenster, und ein Wandteppich mit Reitern und Hunden auf der Jagd verlieh dem Raum eine Art mittelalterlicher Pracht. Stapel englischsprachiger Nachschlagewerke lagen auf einem Tisch in der Mitte des Raums, und eine immense Shakespeare-Sammlung nahm einen eigenen, sonderbaren Schrank neben dem Schreibtisch ein.
Aber der erste Eindruck, den Boras Arbeitszimmer auf mich machte, hatte nichts mit englischer Literatur zu tun. Vielmehr spürte ich gleich die Anwesenheit von etwas Dunklerem, einer Besessenheit, die nach und nach die Milde der englischen Werke, über die Bora schrieb, beiseite gedrängt hatte. Diese Präsenz sprang mich an in Form eines Gesichts, eines Gesichts, das überall war und hochmütig meinen Blick erwiderte – von einem Druck hinter dem Schreibtisch, einem Bild auf dem Tisch, einer alten Stickerei an der Wand, dem Deckel einer Aktenmappe, einer Zeichnung neben dem Fenster. Es war immer dasselbe Gesicht, in verschiedenen Posen und Darstellungen, hohlwangig, mittelalterlich, mit einem Schnurrbart.
Bora blickte mich an. ›Ah, Sie wissen, wer das ist‹, sagte er grimmig. ›Ich habe ihn in allen möglichen Formen gesammelt, wie Sie sehen.‹ Wir standen nebeneinander und betrachteten den gerahmten Druck an der Wand hinter seinem Schreibtisch. Es war die Reproduktion eines Holzschnitts, wie ich ihn zu Hause bereits gesehen hatte, aber das Gesicht war frontal dargestellt, so dass er uns mit seinen tintendunklen Blicken zu durchbohren schien.
›Wo haben Sie all diese Bilder gefunden?‹, fragte ich.
›Wo immer ich konnte.‹ Bora machte eine Geste zu dem Folianten, der auf dem Tisch lag. ›Manche habe ich aus alten Büchern abgezeichnet, und einige habe ich in Antiquitätenläden oder auf Auktionen gefunden. Es ist ungeheuer, wie viele Bilder seines Gesichts in unserer Stadt noch im Umlauf sind. Man muss nur danach Ausschau halten. Ich hatte das Gefühl, wenn ich sie nur alle sammelte, würde ich das Geheimnis meines merkwürdigen leeren Buchs in seinen Augen lesen können.‹ Er seufzte. ›Aber diese Holzschnitte sind so grob, so… schwarzweiß. Sie haben mich letztlich nicht befriedigt, und so bat ich einen Freund, der Maler ist, alle Bilder in einem einzigen Bild zu vereinen.‹
Er führte uns zu einer kleinen Nische neben einem der
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