Der Historiker
er nur später ein paar Schritte mehr unternommen hätte, um hinter die Bedeutung zu kommen!‹
›Vielleicht hat er das ja.‹ Helens Stimme klang nachdenklich, und ich drehte mich zu ihr um und fragte sie, was sie meinte. In diesem Moment schwang die Tür zwischen den seltsamen Knoblauchzöpfen auf, und wir zuckten beide zusammen. Aber anstelle einer schrecklichen Erscheinung stand eine kleine lächelnde Dame in einem grünen Kleid auf der Schwelle. Es war Boras Frau, und wir alle standen auf, um sie zu begrüßen.
›Guten Tag, meine Liebe.‹ Bora zog sie schnell ins Zimmer. ›Das sind meine Freunde, die Professoren aus den Vereinigten Staaten, von denen ich dir erzählt habe.‹
Galant stellte er uns einander vor, und Mrs Bora schüttelte unsere Hände mit einem treuherzigen Lächeln. Sie war genau halb so groß wie Bora, hatte grüne Augen mit langen Wimpern, eine fein gebogene Nase und rötliches Wuschelhaar. ›Es tut mir sehr Leid, dass ich nicht hier war vorher.‹ Ihr Englisch war langsam und bedächtig. ›Wahrscheinlich hat mein Mann Ihnen kein Essen gegeben, nein?‹
Wir protestierten, dass wir aufs Beste versorgt worden seien, aber sie schüttelte den Kopf. ›Mr Bora gibt unseren Gästen nie das gute Dinner. Ich werde ihn… ausschimpfen!‹ Sie schüttelte ihre winzige Faust in Richtung ihres Mannes, dem das zu gefallen schien.
›Ich habe schreckliche Angst vor meiner Frau‹, erklärte er uns selbstzufrieden. ›Sie ist tapfer wie eine Amazone.‹ Helen, die so viel größer war als Mrs Bora, sah die beiden lächelnd an; sie waren wirklich unwiderstehlich.
›Und jetzt‹, sagte Mrs Bora, ›langweilt er Sie mit seinen schrecklichen Sammlungen. Es tut mir Leid.‹ Minuten später saßen wir wieder auf dem wunderbaren Diwan, und Mrs Bora schenkte Kaffee ein und strahlte uns an. Sie war sehr schön, wie ein zartes, zerbrechliches Vögelchen, hatte ein ruhiges Wesen und mochte vielleicht vierzig Jahre alt sein. Ihr Englisch war begrenzt, aber sie gebrauchte es mit Anmut und Humor, als brächte ihr Mann öfter Englisch sprechende Gäste nach Hause. Sie war einfach, aber elegant gekleidet und bewegte sich auf vornehme Weise. Ich stellte sie mir im Kreise ihrer Schützlinge im Kindergarten vor, denen sie Lesen und Schreiben beibrachte – sie reichten ihr sicher bis zum Kinn, dachte ich. Ich fragte mich, ob sie und Bora eigene Kinder hatten. Fotos von Kindern waren nirgends zu sehen, auch kein anderer Hinweis darauf, und ich mochte nicht fragen.
›Hat mein Mann Ihnen eine gute Tour durch die Stadt gegeben?‹, fragte Mrs Bora Helen.
›Ja, ein wenig‹, antwortete Helen. ›Ich fürchte, wir haben heute viel von seiner Zeit in Anspruch genommen.‹
›Nein – umgekehrt, ich habe Ihre Zeit in Anspruch genommen.‹ Bora nippte mit sichtbarem Genuss an seinem Kaffee. ›Aber wir haben noch einiges an Arbeit zu verrichten. Meine Liebe‹ – damit wandte er sich an seine Frau – ›wir suchen nach einem verschwundenen Professor. Ich werde damit sicher ein paar Tage beschäftigt sein.‹
›Ein verschwundener Professor?‹ Mrs Bora lächelte ihn ruhig an. ›Also gut. Aber erst müssen wir etwas essen. Ich hoffe, Sie essen mit uns?‹, fragte sie an uns gewandt.
Der Gedanke an noch mehr Essen war unmöglich, und ich war darauf bedacht, keine Blicke mit Helen zu tauschen. Die jedoch schien das alles ganz normal zu finden. ›Vielen Dank, Mrs Bora. Sie sind sehr freundlich, aber ich glaube, wir müssen zurück ins Hotel. Wir haben dort um fünf Uhr eine Verabredung.‹
Hatten wir das? Ich war perplex, spielte aber mit. ›So ist es. Wir treffen uns mit ein paar Amerikanern. Aber wir hoffen, Sie beide möglichst bald wiederzusehen.‹
Bora nickte. ›Ich werde gleich alles in meiner Bibliothek durchsehen, das uns helfen könnte. Wir müssen die Möglichkeit einkalkulieren, dass Draculas Grab hier in Istanbul ist – die Karten könnten sich also womöglich auf einen Teil der Stadt beziehen. Ich habe verschiedene alte Bücher über die Stadt und Freunde mit ausgezeichneten Sammlungen über Istanbul. Ich werde heute Abend alles für Sie durchsuchen.‹
›Dracula.‹ Frau Bora schüttelte den Kopf. ›Ich mag Shakespeare lieber als Dracula. Er ist ein gesünderes Interesse. Und‹ – sie warf uns einen verschmitzten Blick zu – ›Shakespeare bezahlt unsere Rechnungen.‹
Sie verabschiedeten uns mit großem Aufwand, und Bora nahm uns das Versprechen ab, ihn am nächsten Morgen um neun Uhr in
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