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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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in die Hand. ›Warum schlagen Sie nicht einmal die Seite fünfundzwanzig auf?‹
    Ich tat es und fand auf einer Doppelseite einen kolorierten Stich. Die dazugehörige Kirche war auf einem kleinen Schwarzweißfoto zu sehen: ein elegantes Gebäude mit gedrehten Doppeltürmen. Aber die größere Abbildung weckte mein Interesse. Links schwebte fliegend ein bösartiger Drache mit nicht nur einfach, sondern zweifach gewundenem Schwanz, das goldene Auge rollte wie im Wahnsinn, und das Maul spuckte Feuer. Die Kreatur schien sich auf die Gestalt rechts stürzen zu wollen, einen in Ketten dahockenden Mann mit gestreiftem Turban. Voller Furcht kauerte dieser Mann am Boden, ein Krummschwert in der einen und einen runden Schild in der anderen Hand. Zuerst dachte ich, er stünde auf einem Feld mit merkwürdigen Pflanzen, aber als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass die Objekte um seine Knie herum Menschen waren, ein kleiner Menschenwald, und jeder Einzelne von ihnen wand sich auf dem Pfahl, der ihm durch den Leib getrieben war. Einige von ihnen trugen Turbane wie der Riese in ihrer Mitte, andere waren wie Bauern gekleidet. Dann wieder gab es welche in fließendem Brokat und mit großen Fellmützen, Blonde und Schwarze, Edelleute mit langen schwarzen Bärten und sogar ein paar Priester oder Mönche in schwarzen Kutten und hohen schwarzen Hüten, Frauen mit herabhängenden dicken Zöpfen, nackte Knaben und Kleinkinder, ja, und auch das eine oder andere Tier. Alle wanden sich vor Schmerzen.
    Turgut betrachtete mich. ›Diese Kirche wurde von Dracula während seiner zweiten Regentschaft gestiftet‹, sagte er ruhig.
    Ich studierte das Bild noch weiter, aber schließlich ertrug ich es nicht mehr und schloss das Buch. Turgut nahm es zurück und stellte es wieder an seinen Platz. Als er sich mir zuwandte, war sein Blick fest. ›Und wie, mein Freund, wollen Sie jetzt Professor Rossi aufspüren?‹
    Die unverblümte Frage erinnerte mich daran, dass diese Suche hauptsächlich in meinen Händen lag, und ich seufzte unwillentlich. ›Ich versuche immer noch, die verschiedenen Mosaiksteine zusammenzusetzen‹, gab ich zu. ›Aber trotz Ihrer und Mr Aksoys großzügiger Arbeit letzte Nacht habe ich das Gefühl, noch nicht viel weiter zu sein. Vielleicht ist Vlad Dracula nach seinem Tod tatsächlich noch einmal in Istanbul aufgetaucht, aber wie lässt sich herausfinden, ob er hier auch begraben wurde und es immer noch ist? Das bleibt mir ein Rätsel. Was nun unsere nächsten Schritte anbelangt, kann ich Ihnen nur sagen, dass wir für ein paar Tage nach Budapest fahren werden.‹
    ›Budapest?‹ Fast konnte ich sehen, wie verschiedene Mutmaßungen über sein breites Gesicht huschten.
    ›Ja. Sie erinnern sich doch an die Geschichte, die Ihnen Helen erzählt hat über ihre Mutter und den Professor – ihren Vater. Helen glaubt, dass ihre Mutter noch Dinge weiß, nach denen sie nie gefragt hat, also wollen wir sie besuchen, um persönlich mit ihr zu sprechen. Helens Tante hat eine einflussreiche Position bei der Regierung und wird alles arrangieren, wie wir hoffen.‹
    ›Ah.‹ Fast lächelte er. ›Dank sei Gott für Freunde an höheren Stellen. Wann brechen Sie auf?‹
    ›Vielleicht morgen oder übermorgen. Wir bleiben fünf oder sechs Tage, denke ich, und kommen dann hierher zurück.‹
    ›Sehr gut. Und das hier müssen Sie mitnehmen.‹ Bora stand auf und holte aus einem Schränkchen das Vampirjagd-Set, das er uns tags zuvor gezeigt hatte. Er stellte es direkt vor mich hin.
    ›Aber das ist einer Ihrer Schätze‹, wandte ich ein. ›Und womöglich kommen wir damit gar nicht erst durch den Zoll.‹
    ›Oh, dem Zoll dürfen Sie es keinesfalls zeigen. Sie müssen es äußerst sorgfältig verstecken. Vielleicht finden Sie in Ihrem Koffer einen Platz irgendwo unter dem Futter, oder lassen Sie Miss Rossi es mitnehmen. Das Gepäck einer Frau wird nicht so genau durchsucht.‹ Er nickte ermunternd. ›Mein Herz würde mir schwer, wenn Sie es nicht mitnähmen. Und während Sie in Budapest sind, werde ich durch viele alte Bücher sehen, um etwas Hilfreiches für Sie zu finden. Aber vergessen Sie nicht, Sie jagen ein Ungeheuer. Für den Moment stecken Sie die Schatulle in Ihre Aktentasche, sie ist sehr schmal und leicht.‹ Ich nahm das hölzerne Behältnis ohne ein weiteres Wort und schob es neben mein Drachenbuch. ›Während Sie Helens Mutter befragen, werde ich hier nach jedem möglichen Hinweis auf ein Grab suchen. Ich habe die Idee noch

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