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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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nicht aufgegeben.‹ Er verengte die Augen.
    ›Das würde einen Großteil der Vorkommnisse erklären, die unsere Stadt seit der Zeit damals heimgesucht haben. Und wenn wir sie nicht nur erklären, sondern beenden könnten…‹
    In diesem Augenblick ging die Tür zum Arbeitszimmer auf, und Mrs Bora steckte den Kopf herein, um uns zum Essen zu rufen. Es war ein ebenso köstliches Mahl wie das, mit dem uns Bora tags zuvor bewirtet hatte, nur die Stimmung war düsterer. Helen war schweigsam und sah müde aus, Mrs Bora reichte die Schalen mit stiller Anmut herum, und Mr Erozan setzte sich für eine Weile zu uns, obwohl er nicht viel essen konnte. Mrs Bora sorgte dafür, dass er dennoch ein Glas Rotwein trank und etwas Fleisch aß, was ihm zu neuer Kraft zu verhelfen schien. Selbst Turgut Bora war gedrückter Stimmung und wirkte melancholisch. Helen und ich verabschiedeten uns, sobald es die Höflichkeit erlaubte.
    Turgut brachte uns bis vors Haus und schüttelte uns mit gewohnter Wärme die Hände. Wir sollten ihn anrufen, wenn wir wussten, wann wir abreisen würden, und er versprach uns erneut alle Gastfreundschaft, wenn wir zurückkamen. Dann nickte er mir zu und klopfte auf meine Aktentasche, und ich verstand, dass er ohne Worte noch einmal auf die Schatulle darin hinweisen wollte. Ich nickte zur Antwort und bedeutete Helen mit einer kleinen Geste, dass ich ihr später erklären würde, worum es ging. Turgut winkte, bis wir ihn hinter den Linden und Pappeln nicht mehr sehen konnten, und als er unserem Blick entschwunden war, hakte sich Helen erschöpft bei mir ein. Die Luft duftete nach Flieder. Staubige Strahlen hellen Sonnenlichts markierten die ehrwürdige graue Straße, über die wir schritten, und eine Minute lang hätte ich glauben können, wir wären auf Urlaubsreise in Paris.«

 
    37
     
     
     
    Helen war wirklich müde, und so ließ ich sie widerstrebend zu einem kleinen Nachmittagsschlaf in der Pension zurück. Es gefiel mir nicht, dass sie allein dort blieb, aber sie sagte, das helle Tageslicht sei wahrscheinlich Schutz genug. Selbst wenn der schreckliche Bibliothekar wisse, wo wir wohnten, werde er um diese Zeit wohl nicht in ihr verschlossenes Zimmer vordringen, und im Übrigen habe sie ihr kleines Kruzifix bei sich. Helen würde ihre Tante erst in ein paar Stunden anrufen können, und ohne deren Instruktionen konnten wir nichts zur Vorbereitung unserer Reise unternehmen. So ließ ich meine Aktentasche in Helens Obhut zurück und zwang mich dazu, die Pension zu verlassen. Wenn ich bliebe und so täte, als läse ich oder versuchte nachzudenken, würde ich verrückt werden, das fühlte ich.
    Im Übrigen schien es mir eine gute Gelegenheit, noch etwas mehr von Istanbul zu sehen, und so ging ich in Richtung des irrgartengleichen, kuppelreichen Topkapi-Palast-Komplexes, den Sultan Mehmed als neuen Herrschersitz hatte bauen lassen. Seit unserem ersten Nachmittag in der Stadt fühlte ich mich von ihm angezogen, wenn ich in unserem Reiseführer blätterte und ihn in der Ferne zu spüren glaubte. Die Palastanlage nahm einen großen Teil der Landzunge Istanbuls ein und wird auf drei Seiten von Wasser geschützt: dem Bosporus, dem Goldenen Horn und dem Marmarameer. Wenn ich mir den Palast nicht ansah, würde ich mir das womöglich wichtigste Überbleibsel von Istanbuls osmanischer Geschichte entgehen lassen. Vielleicht entfernte ich mich damit wieder ein Stück von Rossi, aber auch der hätte sich die Anlage angesehen, wenn ihm wie mir ein paar Stunden aufgezwungener Untätigkeit zur Verfügung gestanden hätten.
    Während ich durch Parks, Innenhöfe und Pavillons des Ortes schlenderte, wo einst über Jahrhunderte das Herz des Reiches geschlagen hatte, war ich enttäuscht, so wenige Dinge aus Mehmeds Zeit ausgestellt zu finden – bis auf etwas Schmuck aus seiner Schatzkammer und ein paar seiner Schwerter, die von übermäßigem Gebrauch zerkratzt und vernarbt waren. Unbewusst schien ich darauf gehofft zu haben, einen Blick auf den Sultan selbst zu erhaschen, dessen Truppen gegen Vlad Draculas Kämpfer angetreten waren und dessen Militär und Verwaltung sich so besorgt um die Sicherheit von Draculas vermeintlichem Grab im Kloster Snagov gezeigt hatten. Es war fast so, dachte ich – und sah die beiden alten Männer auf dem Basar wieder vor mir –, als versuchte man, beim Schach die Position des gegnerischen Königs auszumachen, und wusste doch nur um die Verteilung der eigenen Figuren.
    Es gab jedoch vieles im

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