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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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ich. Vielleicht lag da der Schlüssel einer erfolgreichen Verbindung.
    Turgut erklärte ihr die Situation auf Türkisch, und an die Stelle ihres freudigen Ausdrucks trat offensichtlicher Unglaube und wenig später schon aufblühender Schrecken, als Bora ihr vorsichtig die Wunde am Hals ihres neuen Gastes zeigte. Sie sah Helen und mich in stummer Bestürzung an, als sei damit auch sie in diese üble Geschichte hineingezogen. Dann nahm sie die Hand des Bibliothekars, die, wie ich wusste, nicht nur weiß, sondern auch kalt war. Sie hielt sie kurz, wischte sich die Augen und lief schnell in die Küche, wo wir Töpfe und Teller klappern hörten. Was immer auch geschehen mochte, der verwundete Mann würde ein gutes Essen bekommen. Turgut überredete uns dazu mitzuessen, und Helen folgte Mrs Bora zu meiner Überraschung in die Küche, um zu helfen.
    Nachdem wir uns versichert hatten, dass Mr Erozan bequem lag, führte Turgut mich für ein paar Minuten in sein unheimliches Arbeitszimmer. Zu meiner Erleichterung waren die Vorhänge vor dem Porträt fest zugezogen. Eine Weile saßen wir da und besprachen die Situation. ›Glauben Sie, dass es keine Gefahr für Sie und Ihre Frau ist, den Mann hier bei sich zu haben?‹ Ich konnte nicht umhin, ihn das zu fragen.
    ›Ich werde alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, und wenn es ihm in ein oder zwei Tagen besser geht, kümmere ich mich um einen Platz, wo jemand ein Auge auf ihn hat.‹ Turgut hatte mir einen Stuhl herangezogen, er selbst saß hinter seinem Schreibtisch. Fast kam es mir so vor, als säße ich wieder bei Rossi in der Universität, nur dass dessen Arbeitszimmer mit den sprießenden Pflanzen und dem brühenden Kaffee weit freundlicher gewirkt hatte als dieser auf exzentrische Weise düstere Raum. ›Ich rechne nicht mit einem weiteren Angriff hier, aber wenn es dazu kommen sollte, wird sich unser amerikanischer Freund einer furchtbaren Abwehr gegenübersehen.‹ Angesichts seiner stämmigen Statur hinter dem Schreibtisch konnte ich ihm das problemlos glauben.
    ›Es tut mir so Leid‹, sagte ich. ›Wir scheinen Ihnen eine Menge Ärger gebracht zu haben, Professor, bis hin zu dieser Bedrohung, die Sie nun in Ihrem Heim haben.‹ Ich setzte ihn kurz über unser Verhältnis zu dem schrecklichen Bibliothekar ins Bild, bis hin zum gestrigen Abend, als ich den Totgeglaubten vor der Hagia Sophia entdeckt hatte.
    ›Das ist außerordentlich‹, sagte Turgut. Seine Augen leuchteten mit erbittertem Interesse, und seine Finger trommelten auf die Tischplatte.
    ›Ich habe eine Frage an Sie‹, gestand ich. ›Heute Morgen im Archiv haben Sie gesagt, dass Sie solch ein Gesicht schon gesehen hätten. Wann und unter welchen Umständen war das?‹
    ›Ah.‹ Mein gelehrter Freund faltete die Hände auf dem Schreibtisch. ›Ja, ich will Ihnen davon erzählen. Seit damals sind viele Jahre verstrichen, aber ich erinnere mich noch sehr lebhaft. Es geschah im Übrigen ein paar Tage, nachdem ich den Brief von Professor Rossi erhalten hatte, dass er nichts über ein Archiv hier wisse. Ich war nachmittags nach einem Seminar in der Sammlung gewesen: Zu der Zeit befand sie sich noch im alten Bibliotheksgebäude, sie kam erst später an ihren heutigen Aufenthaltsort.
    Ich erinnere mich, dass ich Materialien für einen Aufsatz über ein verlorenes Werk Shakespeares suchte, den König von Tashkani, von dem manche glauben, dass er in einem fiktiven Istanbul spiele. Haben Sie vielleicht davon gehört?‹
    Ich schüttelte den Kopf.
    ›Das Werk wird in den Arbeiten verschiedener englischer Historiker zitiert. Aus ihnen wissen wir, dass es in dem Stück um einen bösen Geist namens Dracole ging, der dem Herrscher einer schönen alten Stadt erscheint, die er – dieser Herrscher – mit Gewalt eingenommen hat. Der Geist sagt, dass er einst der Feind des Herrschers war, dass er nun aber gekommen ist, um ihn zu seiner Blutrünstigkeit zu beglückwünschen. Dann zwingt er den Herrscher dazu, einen großen Schluck vom Blut der Bürger der Stadt zu nehmen, die so zu dessen Günstlingen werden. Das ist eine schauerliche Passage. Manche sagen, dass wäre kein Shakespeare, aber‹ – er schlug voller Überzeugung auf die Kante seines Schreibtischs – ›ich glaube, dass die Diktion, wenn die Zitate stimmen, nur von Shakespeare sein kann. Und die Stadt ist Istanbul, die in dem Stück Tashkani heißt.‹ Er beugte sich vor. ›Und ich glaube auch fest, dass der Tyrann, dem der Geist erschien, niemand anderer als

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