Der Historiker
das rote Glühen der tief stehenden Sonne im Wasser, die aus den vorbeifahrenden Schiffen schwarze Scherenschnitte machte, erinnerte mich daran, dass der Nachmittag auf sein Ende zuging und ich zurück zu Helen gehen sollte, die womöglich bereits Nachricht von der Tante hatte.
Helen saß in der Diele und las eine englische Zeitung, als ich hereinkam. ›Wie war dein Spaziergang?‹, fragte sie und sah auf.
›Grausig‹, sagte ich. ›Ich war im Topkapi-Palast.‹
›Ah.‹ Sie schloss die Zeitung. ›Schade, dass ich das verpasst habe.‹
›Kein Grund zur Trauer. Wie stehen die Dinge in der großen Welt?‹
Sie fuhr mit dem Finger über die Schlagzeilen. ›Grausig. Aber für dich habe ich gute Nachrichten.‹
›Hast du mit deiner Tante gesprochen?‹
›Ja, und wie immer ist es unglaublich, was sie arrangiert hat. Ich bin sicher, sie wird grässlich schimpfen, wenn wir ankommen, aber das macht nichts. Die Hauptsache ist, dass sie einen Kongress gefunden hat, an dem wir teilnehmen können.‹
›Einen Kongress?‹
›Ja. Es ist absolut großartig. In dieser Woche findet in Budapest ein internationaler Historikerkongress statt. Wir werden als Gäste daran teilnehmen, und sie hat bereits für die Visa gesorgt, die wir hier in Istanbul abholen können.‹ Sie lächelte. ›Offenbar hat meine Tante einen Freund, der Historiker an der Universität Budapest ist.‹
›Worum geht es auf dem Kongress?‹, fragte ich ängstlich.
›Europäische Arbeitsfragen bis 1600.‹
›Ein weites Feld. Und ich nehme an, wir sind als Spezialisten für das Osmanische Reich eingeladen.‹
›Genau, mein lieber Watson.‹
Ich seufzte. ›Gut, dass ich mir noch schnell den Topkapi-Palast angesehen habe.‹
Helen lächelte mich an, aber ob sie das mit einer gewissen Boshaftigkeit tat oder einfach im Vertrauen auf meine Fähigkeit, mich zu verstellen, konnte ich nicht sagen. ›Der Kongress beginnt am Freitag, das heißt, uns bleiben zwei Tage für die Reise. Das Wochenende über hören wir uns Vorträge an, und du hältst selbst einen. Sonntag ist ein Teil des Tages frei, damit die Teilnehmer das historische Budapest erkunden können, und wir setzen uns ab und erkunden, was meine Mutter zu sagen weiß.‹
›Ich werde was?‹ Ich starrte sie an, aber sie drehte sich eine Locke ums Ohr und erwiderte meinen Blick mit einem noch unschuldigeren Lächeln.
›Oh, der Vortrag. Du wirst einen Vortrag halten. Das ist unsere Eintrittskarte.‹
›Einen Vortrag worüber bitte?‹
›Über die Präsenz der Osmanen in Transsilvanien und der Walachei in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, denke ich. Meine Tante hat das Thema freundlicherweise noch dem Programm hinzugefügt. Es wird kein langer Vortrag sein müssen, weil es den Osmanen natürlich nie ganz gelungen ist, Transsilvanien einzunehmen. Ich dachte, das wäre ein gutes Thema, da wir beide bereits so viel über Vlad den Pfähler wissen und er wesentlich daran beteiligt war, dass sie draußen blieben, zu seiner Zeit.‹
›Wie schlau von dir‹, schnaufte ich. ›Du meinst, du weißt so viel von ihm. Willst du mir sagen, ich soll mich vor ein internationales Historikerkollegium stellen und dem etwas über Dracula erzählen? Bitte erinnere dich für einen Augenblick daran, dass es in meiner Dissertation um holländische Kaufmannsgilden geht und ich diese Arbeit noch nicht einmal fertig gestellt habe. Warum kannst du den Vortrag nicht halten?‹
›Das wäre lächerlich‹, sagte Helen und faltete die Hände über der Zeitung. ›Ich bin – wie sagt man? – ein alter Hut. Alle an der Universität kennen mich, und ich habe sie schon ein paarmal mit meiner Arbeit gelangweilt. Einen Amerikaner dazuhaben wird der Sache dagegen einen kleinen unerwarteten éclat hinzufügen, alle werden dankbar sein, dass ich dich mitgebracht habe, wenn auch in letzter Minute. Ich werde dir helfen, deinen Vortrag zu schreiben, oder ihn für dich schreiben, wenn du so unfreundlich bleiben willst, und du kannst ihn am Samstagmittag halten. Ich glaube, meine Tante sagte, so gegen ein Uhr.‹
Ich stöhnte. Helen war die unmöglichste Person, die ich je getroffen hatte. Vielleicht war die Tatsache, dass ich sie dorthin begleitete, eine größere politische Belastung, als sie zugab, dachte ich. ›Was haben die Osmanen in der Walachei oder Transsilvanien eigentlich mit europäischen Arbeitsfragen zu tun?‹
›Oh, wir finden schon einen Weg, ein paar dieser Fragen einzubauen. Das ist das
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