Der Historiker
Palast, das meine Gedanken auf Trab hielt. Nach dem, was mir Helen tags zuvor erzählt hatte, befand ich mich in einer Welt, in der einst mehr als fünftausend Diener mit Titeln wie ›Großer Turbanwickler‹ dem Willen des Sultans gedient hatten; wo Eunuchen über die Tugend eines riesigen Harems wachten, der ein großes, reich geschmücktes Gefängnis war; von wo aus Sultan Süleyman der Prächtige im sechzehnten Jahrhundert regiert und das Reich konsolidiert, seine Gesetze festgeschrieben und Istanbul zu einer ebenso herrlichen Metropole gemacht hatte, wie es einst die byzantinischen Herrscher getan hatten. Wie sie begab sich der Sultan einmal wöchentlich hinaus in die Stadt und betete in der Hagia Sophia – aber freitags, am heiligen Tag der Muslime, nicht am Sonntag. Es war eine Welt strenger Vorschriften und üppiger Mahlzeiten, prächtiger Gewänder und sinnlich-schöner Fayencekachelkunst, grün gekleideter Wesire und rot gewandeter Kämmerer, fantastisch gefärbter Stiefel und aufragender Turbane.
Besonders fasziniert hatte mich Helens Beschreibung der Janitscharen, einer Elitetruppe des osmanischen Sultans, die aus Knaben rekrutiert wurde, welche man im ganzen Reich als Tribut einforderte. Ich wusste, ich hatte bereits von ihnen gelesen: Jungen aus den christlichen Balkanländern wie Serbien und der Walachei wurden deportiert und am Hof des Sultans zum Islam erzogen, Hass auf die Völker, denen sie selbst entstammten und auf die sie nach Erreichen des Mannesalters gehetzt wurden, wie Falken, denen man das Töten beigebracht hatte. Irgendwo hatte ich Bilder von den Janitscharen gesehen, vielleicht in einem Buch. Ich stellte mir ihre ausdruckslosen Gesichter vor, zusammengetrieben, um den Sultan zu schützen, und fühlte, wie die Kühle der Palastgebäude um mich herum zunahm.
Mir kam der Gedanke, dass der junge Vlad Dracula einen ausgezeichneten Janitscharen abgegeben hätte. Da hatte das Reich eine Gelegenheit verpasst, seiner enormen Macht noch etwas mehr Grausamkeit hinzuzufügen und sich dienstbar zu machen. Sie hätten ihn ziemlich jung gefangen nehmen müssen, dachte ich, und in Anatolien behalten, statt ihn aus der Geiselhaft zu entlassen und seiner Wege gehen zu lassen. Das alles hatte ihn unabhängig gemacht, ihn zu einem Aufständischen werden lassen, der allein sich selbst treu war und seine eigenen Leute ebenso schnell hinrichten ließ, wenn sie ihm im Weg standen, wie er seine türkischen Feinde umbrachte. Wie Stalin – ich überraschte mich selbst mit diesem Gedankensprung, als ich auf den glitzernden Bosporus hinaussah. Stalin war vor einem Jahr gestorben, und neue Berichte über seine Grausamkeiten hatten den Weg in die westliche Presse gefunden. Ich erinnerte mich an die Geschichte eines ihm offenbar ergebenen Generals, dem Stalin kurz vor dem Krieg vorgeworfen hatte, er habe einen Umsturz gegen ihn geplant. Man holte den General mitten in der Nacht aus seiner Wohnung und hängte ihn mit den Füßen an das Gebälk eines belebten Bahnhofs außerhalb Moskaus. Einige Tage hing er dort, bis er starb. Die Reisenden sahen ihn alle, aber niemand traute sich, auch nur ein zweites Mal zu ihm aufzublicken. Noch viel später waren die Menschen dort nicht fähig gewesen, sich darauf zu einigen, ob es wirklich so passiert war oder nicht.
Diese Art verstörender Gedanken begleiteten mich von einem der herrlichen Räume des Palastes in den anderen. Überall spürte ich Unheimliches, Gefahrvolles, was an der überwältigenden Sichtbarkeit der extremen Macht des Sultans gelegen haben mag, einer Macht, die von den engen Fluren, verwinkelten Durchgängen, vergitterten Fenstern und umschlossenen Gärten weniger verborgen als hervorgehoben wurde. Endlich gelangte ich – auf der Suche nach etwas Erleichterung vom gleichzeitigen Gefühl von Sinnlichkeit und Eingesperrtsein, Eleganz und Unterdrückung – zurück zu den sonnenbeschienenen Bäumen des äußeren Hofes.
Draußen jedoch stieß ich auf die alarmierendsten Geister, denn mein Stadtführer lokalisierte dort den Hinrichtungsblock und erklärte detailliert die Gewohnheit des Sultans, widerspenstige Beamte und jeden Missliebigen enthaupten zu lassen. Die Köpfe wurden in den Nischen neben dem Palasttor aufgehängt, als strenge Ermahnung der Bevölkerung. Der Sultan und der Renegat aus der Walachei gaben ein gutes Paar ab, dachte ich und wandte mich voller Ekel ab. Ein Spaziergang durch den angrenzenden Park beruhigte meine Nerven endlich etwas, und
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