Der Historiker
›Wenn ich richtig verstehe, haben Sie keine gültige Austauschvereinbarung mit türkischer Regierung, um Material untersuchen zu dürfen. Stimmt das?‹
›Das stimmt ganz sicher nicht.‹ Ich zog einen Brief der Nationalbibliothek hervor, der bestätigte, dass ich in allen ihren Abteilungen in Istanbul Nachforschungen anstellen dürfe.
›Das reicht nicht‹, sagte er und warf den Brief zurück auf meine Unterlagen. ›Vielleicht Sie mit mir kommen müssen.‹
›Wohin?‹ Ich stand auf und fühlte mich auf den Beinen sicherer als im Sitzen, wobei ich hoffte, das er mein Aufstehen nicht als Nachgiebigkeit auffasste.
›Zur Polizei, wenn nötig.‹
›Das ist unerhört.‹ Wenn es zu bürokratischen Zweifeln kommt, hatte ich gelernt, erhebe deine Stimme. ›Ich bin Doktorand der Universität Oxford und Bürger des Vereinigten Königreichs. Am Tag meiner Ankunft habe ich mich hier an der Universität angemeldet und diesen Brief als Ausweis meines Status bekommen. Ich werde mich nicht von der Polizei befragen lassen – und auch nicht von Ihnen.‹
›Ich verstehe.‹ Er lächelte auf eine Weise, die mir einen Knoten im Magen verursachte. Ich hatte das eine oder andere über türkische Gefängnisse und ihre gelegentlichen westlichen Insassen gelesen, und meine Situation kam mir durchaus heikel vor, wenn ich auch nicht verstand, was der Grund für das alles sein sollte. Ich hoffte, dass mich einer der herumschlurfenden Bibliothekare gehört hatte und hereinkommen würde, um beruhigend einzugreifen. Dann begriff ich jedoch, dass eben diese Bibliothekare für die Anwesenheit dieser Person mit ihrer beängstigenden Visitenkarte verantwortlich sein mussten. Vielleicht war er tatsächlich ein wichtiger Mann. Er lehnte sich vor. ›Lassen Sie mich sehen, was Sie hier tun. Machen Sie Platz, bitte.‹
Widerwillig trat ich zur Seite, und er beugte sich über meine Arbeit, klappte meine Wörterbücher zu, um ihre Einbände zu lesen, und lächelte immer noch dieses beunruhigende Lächeln. Er hatte eine starke körperliche Präsenz und einen Geruch, als versuchte er, mit Kölnischwasser irgendetwas Unangenehmes zu überdecken, allerdings nicht mit rechtem Erfolg. Zuletzt nahm er die Karte in die Hand, über der ich gerade gesessen hatte, und seine Hände waren mit einem Mal sanft, gingen fast zärtlich mit ihr um. Er erweckte den Eindruck, als bräuchte er sie nicht lange zu studieren, um zu wissen, worum es sich handelte. Ich nahm jedoch an, dass er bluffte. ›Das ist Ihr archivarisches Material, ja?‹
›Ja‹, sagte ich voller Zorn.
›Das ist sehr wertvoller Besitz des türkischen Staats. Ich glaube nicht, dass Sie das für ausländischen Zweck brauchen. Und dieses Stück Papier, diese kleine Karte, hat Sie den ganzen Weg von englischer Universität nach Istanbul machen lassen?‹
Ich überlegte, ob ich ihm antworten sollte, dass ich noch andere Dinge zu tun hätte, um ihn so von meiner Arbeit hier abzulenken, aber mir war klar, dass ich damit weitere Befragungen auslösen könnte. ›Kurz gesagt, ja.‹
›Kurz gesagt?‹, fragte er nun milder. ›Nun, ich denke, Sie werden herausfinden, Karte ist vorübergehend konfisziert. Wie schade für ausländischen Forscher.‹
Ich kochte – das jetzt, wo ich so nah vor der Lösung stand – und war nur dankbar, dass ich an diesem Morgen keine meiner sorgfältig kopierten alten Karten von den Karpaten mitgebracht hatte, die ich mit den Karten hier erst tags darauf vergleichen wollte. Sie lagen in meinem Koffer im Hotel versteckt. ›Sie haben absolut kein Recht, Material zu konfiszieren, das man mir bereits für meine Arbeit zur Verfügung gestellt hat‹, sagte ich und knirschte mit den Zähnen. ›Ich werde dies umgehend der Nationalbibliothek melden. Und der britischen Botschaft. Was spricht überhaupt dagegen, dass ich diese Dokumente studiere? Es sind unklare Stücke mittelalterlicher Geschichte. Sie haben nichts mit den Interessen der türkischen Regierung zu tun. Da bin ich sicher.‹
Der Bürokrat stand da und sah an mir vorbei, als präsentierten sich die Minarette der Hagia Sophia in einem interessanten neuen Winkel, den er noch nie gesehen hätte. ›Es ist‹, sagte er leidenschaftslos, ›zu eigenem Besten. Viel besser, wenn Sie jemand anderen daran arbeiten lassen. Zu anderer Zeit.‹ Er blieb ganz ruhig stehen, den Kopf zum Fenster gewandt, als wollte er, dass ich ihm mit meinem Blick folgte. Ich hatte das kindische Gefühl, dass ich es nicht tun sollte,
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