Der Historiker
meinem – und Ihrem – alten Buch, aber ich vermutete, dass er mit der Dracula-Legende zu den Türken gekommen sein musste. Unter den Drachen hatte jemand mit Tinte etwas geschrieben, was ich erst – wie die Sprüche an den Rändern – für Arabisch hielt. Mit Hilfe des Vergrößerungsglases stellte ich dann aber fest, dass es sich um Griechisch handelte, und schon las ich laut, was da stand, alle Höflichkeit vergessend – wobei der Lesesaal leer war, sah man von dem gelegentlich hereinsehenden gelangweilten Bibliothekar ab, der sich ganz offensichtlich vergewissern wollte, dass ich nichts stahl. In diesem Moment aber war ich völlig allein. Die winzig kleinen Buchstaben tanzten vor meinen Augen, als ich sie laut übersetzte: ›An diesem Ort wohnt er im Bösen. Leser, befreie ihn mit einem Wort aus seiner Gruft.‹
Augenblicklich hörte ich unten im Foyer eine Tür zuschlagen. Schwere Schritte kamen die Treppe herauf. Ich war jedoch immer noch mit einem Gedankenblitz beschäftigt: Das Vergrößerungsglas hatte mir gerade gesagt, dass die Karte vor mir im Unterschied zu den anderen beiden allgemeineren von drei verschiedenen Leuten beschriftet worden war, in ihren drei Sprachen. Die Handschriften und auch die Sprachen unterschieden sich. Ebenso die Farben der sehr, sehr alten Tinten. Dann hatte ich eine plötzliche Vision – Sie wissen, diese Intuition, der ein Forscher durchaus vertrauen kann, wenn Wochen um Wochen sorgfältiger Arbeit dahinter stecken.
Mir schien, dass die Karte ursprünglich aus dieser Zeichnung in der Mitte bestanden hatte, mit den sie umgebenden Bergen und dem griechischen Befehl. Die slawischen Beschriftungen mussten später dazugekommen sein, um die Orte zu bezeichnen, auf die die Karte sich bezog – wenn auch kodiert. Danach war sie in osmanische Hände gefallen und mit Sprüchen aus dem Koran beschriftet worden, die die ominöse Botschaft in der Mitte beherbergten oder einschlossen oder mit Talismännern gegen das Finstere abschirmten. Wenn das so war, wer, des Griechischen mächtig, hatte dann die erste Karte markiert, sie womöglich sogar gezeichnet? Ich wusste, dass Griechisch die Sprache der byzantinischen Gelehrten zur Zeit Draculas gewesen war, wenn auch nicht der Mehrzahl der Gelehrten in der osmanischen Welt.
Bevor ich auch nur ein Wort zu dieser Theorie zu Papier bringen konnte – die einer Überprüfung bedurft hätte, die außerhalb meiner eigenen Fähigkeiten lag –, flog die Tür am anderen Ende des Lesesaals auf und ein großer, kräftig gebauter Mann kam herein, eilte aufgeregt an den Büchern vorbei und blieb vor meinem Tisch stehen. Er sah aus wie ein mutwilliger Eindringling, und ich hatte das sichere Gefühl, dass er keiner der Bibliothekare war. Mein Gefühl sagte mir auch, dass ich mich erheben sollte, aber aus einem gewissen Stolz heraus konnte ich mich nicht dazu entschließen. Es hätte unterwürfig wirken können, wo die Unterbrechung doch so plötzlich und ziemlich unhöflich erfolgt war.
Wir sahen einander an, und ich war erstaunter denn je. Der Mann passte ganz und gar nicht in diese esoterische Umgebung; sah gut und gepflegt aus, schwarzhaarig, türkisch oder südslawisch, hatte einen großen schwarzen Schnurrbart und trug einen maßgeschneiderten dunklen Anzug wie ein westlicher Geschäftsmann. Voller Streitlust trafen seine Augen auf meine, und seine langen Wimpern sahen in dem harten Gesicht irgendwie abstoßend aus. Seine Haut war fahl, aber schön und makellos, die Lippen sehr rot. ›Sir‹, sagte er mit einer tiefen, feindseligen Stimme, und sein türkisch gefärbtes Englisch war fast ein Knurren, ›ich denke nicht, dass Sie wirkliche Erlaubnis für das hier haben.‹
›Für was?‹ Sofort stellten sich meine akademischen Nackenhaare auf.
›Für diese Forschungsarbeit. Sie arbeiten mit Material, das türkische Regierung als vertrauliches türkisches Archiv betrachtet. Kann ich Papiere bitte sehen?‹
›Wer sind Sie?‹, fragte ich mit der gleichen Kaltschnäuzigkeit. ›Können Sie mir Ihre zeigen?‹
Er zog eine Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts, schlug sie geöffnet auf den Tisch vor mir und klappte sie gleich wieder zu. Ich hatte gerade Zeit, eine elfenbeinfarbene Karte zu erkennen, mit einem wahren Wust türkischer und arabischer Titel. Die Hand des Mannes wirkte unangenehm wächsern, mit langen Fingernägeln und schwarzen Haaren auf dem Handrücken. ›Ministerium für kulturelle Güter‹, sagte er betont kühl.
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