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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Ragusas Hauptstraße, und der Marmor unter unseren Füßen, auf Hochglanz poliert von den Schuhsohlen, die jahrhundertelang über ihn dahingeglitten waren, spiegelte die Lichter der Geschäfte und Paläste ringsum, so dass sie glänzte wie die Oberfläche eines großen Kanals. Am Ende der sich zum Hafen öffnenden Straße, sicher im Herzen der Altstadt, ließen wir uns auf Kaffeehausstühle fallen, und ich drehte das Gesicht in den Wind, der nach wilder Brandung und – was mich angesichts der fortgeschrittenen Jahreszeit wunderte – reifen Orangen duftete. See und Himmel waren fast dunkel. Fischerboote tanzten auf einer Bahn bewegteren Wassers weit hinten im Hafen, und der Wind trug Seegeräusche, Seegerüche und eine neue Milde heran. »Ja, der Süden«, sagte mein Vater befriedigt und zog ein Glas Whiskey und einen Teller mit Sardinen auf Brot zu sich heran. »Sagen wir, dein Boot läge hier vor Anker und die Nacht wäre klar genug zum Reisen. Du könntest dich nach den Sternen richten und von hier direkt nach Venedig fahren, an die albanische Küste oder in die Ägäis.«
    »Wie lange würde es dauern, um nach Venedig zu segeln?« Ich rührte in meinem Tee, und eine Brise wehte den Dampf auf das Meer hinaus.
    »Oh, eine Woche oder etwas mehr, denke ich, auf einem mittelalterlichen Schiff.« Er lächelte mich an und wirkte endlich entspannt. »Marco Polo wurde an dieser Küste geboren, und die Venezianer drangen immer wieder hier ein. Man könnte durchaus sagen, dass wir an einer Art Tor zur Welt sitzen.«
    »Wann warst du schon einmal hier?« Erst nach und nach begann ich an das frühere Leben meines Vaters zu glauben, seine Existenz vor meiner Geburt.
    »Ich war verschiedentlich hier. Vielleicht vier- oder fünfmal. Das erste Mal liegt Jahre zurück, da war ich noch Student. Mein Doktorvater empfahl mir, von Italien aus einen Abstecher nach Ragusa zu machen, einfach nur, um dieses Wunder zu sehen; das war während meiner Zeit in Florenz – du erinnerst dich, dass ich einen Sommer lang in Florenz Italienisch lernte.«
    »Du meinst Professor Rossi.«
    »Ja.« Mein Vater sah mich scharf an, dann blickte er auf seinen Whiskey.
    Es entstand eine kleine Pause, die vom Flattern der Markise über uns in der für die Jahreszeit untypisch warmen Brise gefüllt wurde. Aus dem Inneren der Bar und des Restaurants drang ein Gewirr von Touristenstimmen, das Geräusch von Tellern, die auf Tische gestellt wurden, Saxofon- und Klaviermusik. Vom dunklen Hafen herüber hörte man das Wasser gegen Schiffe schwappen. Endlich sprach mein Vater. »Ich sollte dir etwas mehr von ihm erzählen.« Er sah mich immer noch nicht an, und ich glaubte, ein feines Versagen seiner Stimme zu hören.
    »Das würde mir gefallen«, sagte ich vorsichtig.
    Er nippte an seinem Whiskey. »Du bist stur, was Geschichten angeht, nicht wahr?«
    Du bist der Starrkopf, hätte ich gern gesagt, aber ich hütete meine Zunge. An der Geschichte lag mir mehr als an einem Streit.
    Mein Vater seufzte. »Also gut. Morgen werde ich dir mehr von ihm erzählen, bei Tageslicht, wenn ich nicht mehr so müde bin und wir etwas Zeit haben, um auf der Stadtmauer spazieren zu gehen.« Mit dem Glas deutete er auf die grauweiß leuchtenden Festungsmauern über dem Hotel. »Das ist eine bessere Zeit für Geschichten. Ganz besonders für diese.«
     
     
    Vormittags dann saßen wir dreißig, vierzig Meter über der Brandung, die sich weiß schäumend an den Riesenwurzeln der Stadt brach. Der Novemberhimmel war klar wie an einem Sommertag. Mein Vater setzte seine Sonnenbrille auf, sah auf die Uhr, steckte die Broschüre über die rostfarbene Ziegelarchitektur der Dächer unter uns ein und ließ eine Gruppe deutscher Touristen an uns vorbei und außer Hörweite gehen. Ich sah auf das Meer hinaus, an einer baumbestandenen Insel vorbei auf den verschwimmenden blauen Horizont. Aus dieser Richtung waren die venezianischen Schiffe gekommen, hatten Krieg oder Handel gebracht, und die roten und goldenen Fahnen hatten ohne Unterlass unter eben diesem Himmelsbogen geflattert. Während ich darauf wartete, dass mein Vater zu reden begann, rührte sich in mir eine Vorahnung, die alles andere als wissenschaftlich war. Vielleicht waren die Schiffe, die ich mir da am Horizont vorstellte, nicht einfach nur Teil eines farbenprächtigen Festzuges. Warum fiel es meinem Vater so schwer, anzufangen?

 
    4
     
     
     
    Wie ich dir sagte, begann mein Vater und räusperte sich ein-, zweimal, war Professor

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