Der Historiker
Rossi ein ausgezeichneter Wissenschaftler und ein wahrer Freund. Ich könnte nichts anderes über ihn berichten. Ich weiß, was ich dir über ihn erzählt habe – und vielleicht nicht hätte erzählen sollen –, lässt ihn… verrückt erscheinen. Du erinnerst dich, dass das, was er mir erklärte, nur sehr schwer zu glauben war. Ich war tief schockiert und plötzlich voller Zweifel, was ihn anging, obwohl ich aus seinem Gesicht Ernsthaftigkeit und Überzeugung las. Als er seinen Satz zu Ende gebracht hatte, sah er mich kurz mit diesen wachsamen Augen an.
»Wie in aller Welt meinen Sie das?«, muss ich gestammelt haben.
»Ich wiederhole es noch einmal«, sagte Rossi voller Nachdruck. »In Istanbul fand ich heraus, dass Dracula immer noch unter uns lebt. Wenigstens war es damals so.«
Ich starrte ihn an.
»Ich weiß, Sie müssen denken, ich bin wahnsinnig«, sagte Rossi und entspannte sich merklich. »Und gestehe Ihnen auch zu, dass jeder, der lang genug in dieser Vergangenheit herumstochert, sehr wohl den Verstand verlieren kann.« Er seufzte. »Es gibt in Istanbul ein wenig bekanntes Archiv, das von Sultan Mehmed II. gestiftet wurde, der die Stadt 1453 eroberte – damals hieß sie Konstantinopel und war Hauptstadt des Byzantinischen Reiches. In diesem Archiv findet sich hauptsächlich Ramsch, welchen die Türken später zusammengetragen haben, als das Osmanische Reich nach und nach zerfiel. Aber es enthält auch Dokumente aus dem späten fünfzehnten Jahrhundert, und darunter fand ich verschiedene Karten, die vorgaben, den Weg zum ›Unheiligen Grab eines Türkentöters‹ zu beschreiben, und ich dachte, bei jenem ›Türkentöter‹ könnte es sich um Vlad Tepes handeln. Es waren genau drei Karten in verschieden großem Maßstab, die den Karteninhalt entsprechend vergrößert wiedergaben. Was sie darstellten, war mir jedoch völlig fremd, es gab nichts, was ich mit einer mir bekannten Landschaft hätte verbinden können. Beschriftet waren sie hauptsächlich in Arabisch und datiert auf um 1500, wie mein Buch hier.« Er klopfte auf das merkwürdige kleine Buch, das, wie ich dir sagte, meinem Fund so ungeheuer ähnelte. »Die Angaben in der Mitte der dritten Karte mussten in einem sehr alten slawischen Dialekt geschrieben sein. Nur ein Sprachwissenschaftler, dem eine Vielzahl linguistischer Quellen zur Verfügung stand, hätte sie übersetzen können. Ich tat mein Bestes, aber das Ergebnis blieb ungenau.«
Rossi schüttelte den Kopf, als bedauerte er seine Grenzen. »Die Anstrengungen, die ich in diese Entdeckung investierte, brachten mich unvernünftig weit von meiner offiziellen sommerlichen Forschungsarbeit über den Handel des antiken Kreta ab. Aber für Vernunft, so denke ich, war ich in dem heißen, stickigen Archiv in Istanbul längst nicht mehr erreichbar. Ich erinnere mich, dass man durch die schmuddeligen Fenster die Minarette der Hagia Sophia sehen konnte. Da saß ich also und hatte Hinweise, was man aus türkischer Sicht über Vlads Reich wusste, vor mir liegen, plagte mich mit meinen Wörterbüchern, machte endlose Notizen und kopierte die Karten von Hand.
Um es abzukürzen: Eines Nachmittags saß ich über die dritte und verwirrendste Karte mit der sorgfältig markierten Stelle gebeugt, die den Ort des Unheiligen Grabes anzeigen sollte. Sie erinnern sich, dass Vlad Tepes Rumänien in einem Kloster auf einer Insel im Snagov-See begraben sein soll. Auf dieser Karte, wie auf der anderen auch, war kein See mit einer Insel verzeichnet, wenn auch ein Fluss die Gegend durchschnitt, der in seinem Mittelteil breiter wurde. Die Beschriftung an den Rändern hatte ich mit Hilfe eines Professors für Arabisch und Osmanisch an der Universität zu Istanbul bereits übersetzt – es handelte sich um kryptische Sprichwörter über die Natur des Bösen, viele von ihnen entstammten dem Koran. Hier und da auf der Karte, zwischen grob skizzierten Bergen, stand zudem etwas geschrieben, was, wie ich schon sagte, auf den ersten Blick Ortsnamen in einem slawischen Dialekt zu sein schienen, was sich übersetzt aber als Rätsel entpuppte, wahrscheinlich waren es Kodes für tatsächliche Plätze: Tal der acht Eichen, Dorf der Schweinediebe und so weiter. Seltsame bäuerliche Bezeichnungen, die keinerlei Bedeutung für mich hatten.
Nun, in der Mitte der Karte, über dem Unheiligen Grab, wo immer es sein sollte, war ein Drache dargestellt, der eine Burg als Krone trug. Der Drache sah ganz und gar nicht so aus wie der in
Weitere Kostenlose Bücher