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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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in dem tags zuvor der Empfang stattgefunden hatte, blieb sie stehen. ›Tu mir einen Gefallen.‹
    ›Sicher doch. Was?‹
    ›Sprich nicht mit Géza Jozsef über unsere Reise oder die Tatsache, dass wir nach jemandem suchen.‹
    ›Warum sollte ich das?‹, fragte ich entrüstet.
    ›Ich will dich nur warnen. Er kann unglaublich charmant sein.‹ Sie hob die Hand mit ihrem Handschuh und machte eine beschwichtigende Geste.
    ›In Ordnung.‹ Ich hielt ihr die große Barocktür auf, und wir gingen hinein.
    Im Vortragsraum im ersten Stock saßen bereits viele der Leute, die ich am Tag zuvor gesehen hatte, auf Stuhlreihen, sprachen angeregt miteinander oder blätterten durch ihre Unterlagen. ›Mein Gott‹, sagte Helen, ›die Anthropologie ist auch vertreten.‹ Einen Moment später nahmen sie bereits Begrüßungen und Gespräche voll in Anspruch. Ich sah, wie sie Menschen anlächelte, die vermutlich alte Freunde waren, Kollegen, mit denen sie jahrelang zusammengearbeitet hatte, und eine Welle der Einsamkeit brach über mich herein. Sie schien auf mich zu deuten, versuchte, mich aus der Entfernung vorzustellen, aber der wilde Strom Stimmen und ihr in meinen Ohren bedeutungsloses Ungarisch errichteten eine fast mit den Händen zu greifende Grenze zwischen uns.
    Da fühlte ich, wie jemand meinen Arm berührte, und der formidable Géza Jozsef stand vor mir. Sein Handschlag und Lächeln wirkten herzlich. ›Wie gefällt Ihnen unsere Stadt?‹, fragte er. ›Mögen Sie ihre verschiedenen Seiten?‹
    ›Samt und sonders‹, sagte ich mit der gleichen Herzlichkeit. Helens Warnung stand mir klar im Kopf, aber es war schwer, den Mann nicht zu mögen.
    ›Ah, das freut mich sehr‹, sagte er. ›Und heute Nachmittag werden Sie Ihren Vortrag halten?‹
    Ich hustete. ›Ja‹, sagte ich. ›Ja, genau. Und Sie? Werden wir Sie heute ebenfalls hören?‹
    ›Oh nein, mich nicht‹, sagte er. ›Ich sitze gerade an einer äußerst interessanten Arbeit, aber Vorträge kann ich darüber noch nicht halten.‹
    ›Um was handelt es sich dabei?‹ Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen, doch in diesem Augenblick rief Professor Sandor, der mit der weißen Turmfrisur, vom Podium vorn das Auditorium zur Ruhe. Die Menge verteilte sich auf die Sitze, Vögeln gleich, die sich auf Reihen von Telefonkabeln niederlassen, und verstummte. Ich setzte mich mit Helen nach hinten. Es war erst halb zehn, ich konnte mich also noch ein wenig ausruhen. Géza Jozsef hatte sich vorn einen Platz gesucht, ich konnte seinen gut aussehenden Kopf in der ersten Reihe erkennen. Mein Blick fiel auf etliche Leute, die mir am Vortag vorgestellt worden waren. Es war ein ernstes, leicht verkrumpelt wirkendes Publikum, und alle blickten nach vorn auf Professor Sandor.
    ›Guten Morgen‹, dröhnte der, und das Mikrofon kreischte, bis ein Student mit blauem Hemd und schwarzer Krawatte nach vorn kam und es in Ordnung brachte. ›Guten Morgen, verehrte Besucher, good morning, bonjour – willkommen in der Universität Budapest, wir sind stolz, Sie auf der ersten europäischen Tagung von Historikern zum…‹ Wieder fing das Mikrofon an zu kreischen, und wir verpassten einige Sätze. Professor Sandor war offenbar zudem sein Englisch ausgegangen, und ein paar Minuten lang fuhr er in einer Mixtur aus Ungarisch, Französisch und Deutsch fort. Aus den französischen und deutschen Brocken hörte ich heraus, dass es um zwölf Mittagessen geben und ich anschließend, zu meinem Schrecken, den Schlüsselvortrag halten würde, als Höhepunkt der Tagung, das Glanzlicht, und dass ich ein amerikanischer Wissenschaftler von hohem Rang sei, ein Spezialist nicht nur für die Geschichte der Niederlande, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung und Struktur des Osmanischen Reiches sowie die Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten – hatte Tante Éva da etwas Eigenes hinzuerfunden? Mein Buch über die niederländischen Kaufmannsgilden zur Zeit Rembrandts werde im folgenden Jahr erscheinen, und man habe großes Glück gehabt, mich noch in der letzten Woche dem Programm hinzufügen zu können.
    Das war alles noch weit schlimmer als in meinen schlimmsten Träumen, und ich schwor, dass Helen dafür bezahlen würde, wenn sie da ihre Hand mit im Spiel gehabt haben sollte. Etliche Männer im Publikum drehten sich zu mir um, lächelten liebenswürdig, nickten und zeigten einander sogar mit der Hand, wer ich war. Helen saß hoheitsvoll ernst neben mir, aber etwas an der Neigung ihrer

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