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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Geheimnis kämen. Du wirst verstehen, dass sie in einer solch traditionellen Kultur Gefahr lief, verstoßen zu werden und vielleicht gar zu verhungern. Also schrieb sie an Èva und bat sie um Hilfe, und meine Tante und mein Onkel arrangierten die Reise nach Budapest für sie. Mein Onkel holte sie an der Grenze ab, die schwer bewacht wurde, und brachte sie in die Stadt. Ich habe einmal gehört, wie meine Tante sagte, er habe den Grenzern eine enorme Summe dafür zahlen müssen. Transsilvanier waren in Ungarn verhasst, besonders nach dem Vertrag. Meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass sie alles für meinen Onkel getan hätte – nicht nur, dass er sie aus einer schrecklichen Situation befreit hatte, er ließ sie auch nie den Unterschied ihrer Herkunft spüren. Ihr brach das Herz, als er umkam. Er war es, der sie sicher nach Ungarn hineinbrachte und ihr ein neues Leben schenkte.‹
    ›Und dann wurdest du geboren?‹, fragte ich.
    ›Dann wurde ich geboren, in einem Budapester Krankenhaus, und meine Tante und mein Onkel halfen, mich großzuziehen, und schickten mich zur Schule. Wir wohnten bei ihnen, bis ich auf die Oberschule kam. Während des Krieges zog Éva mit uns aufs Land und fütterte uns alle irgendwie durch. Meine Mutter drückte auch noch mal die Schulbank und lernte Ungarisch. Sie weigerte sich standhaft, mir Rumänisch beizubringen, obwohl ich es sie manchmal im Schlaf sprechen hörte.‹ Helen warf mir einen bitteren Blick zu. ›Du siehst, was dein geliebter Rossi uns angetan hat‹, sagte sie, und ihr Mund zuckte. ›Wenn meine Tante und mein Onkel nicht gewesen wären, wäre meine Mutter womöglich allein in irgendeinem Bergwald gestorben und von den Wölfen gefressen worden. Alle beide wären wir das.‹
    ›Dafür bin ich deiner Tante und deinem Onkel ebenfalls sehr dankbar‹, sagte ich und beschäftigte mich aus Angst vor ihrem sardonischen Blick damit, mir Kaffee aus der Metallkanne nachzugießen, die neben meinem Ellbogen stand.
    Helen antwortete darauf nicht. Nach einer Minute zog sie ein paar Papiere aus ihrer Tasche. ›Sollen wir deinen Vortrag noch einmal durchgehen?‹
    Die Morgensonne und die kühle Luft draußen wirkten auf mich wie eine Bedrohung. Alles, woran ich denken konnte, als wir zur Universität hinübergingen, war, dass der Moment bald da sein würde, da ich mit meinem Vortrag beginnen musste. Ich hatte bislang erst einen vergleichbaren Vortrag gehalten, eine gemeinsame Präsentation mit Rossi im Jahr zuvor, als wir eine Tagung über den niederländischen Kolonialismus ausgerichtet hatten. Jeder hatte die Hälfte des Vortrags verfasst. Meine Hälfte war der erbärmliche Versuch gewesen, in zwanzig Minuten zusammenzufassen, was, wie ich glaubte, den Kern meiner Dissertation ausmachen würde, obwohl ich noch kein Wort davon zu Papier gebracht hatte. Rossis Teil war eine brillante, weit ausholende Abhandlung über das kulturelle Erbe der Niederlande gewesen, die strategische Macht der holländischen Flotte und die Natur des Kolonialismus überhaupt. Trotz meines allgemeinen Gefühls, ihm und der Sache in keiner Weise gewachsen zu sein, hatte ich mich geschmeichelt gefühlt, dass er mich mit in den Vortrag einbezog. Zudem hatte er mir durch seine kompakte, selbstbewusste Präsenz neben mir auf dem Podium den Rücken gestärkt und mir freundlich auf die Schulter geklopft, als ich ihm das Auditorium überließ. Heute würde ich ganz auf mich allein gestellt sein. Diese Aussicht war düster, wenn nicht Furcht einflößend, und allein die Überlegung, wie Rossi mit der Situation umgehen würde, gab mir etwas Halt.
    Das elegante Pest breitete sich rings um uns aus, und im hellen Tageslicht konnte ich sehen, dass sich seine Herrlichkeit im Bau befand, oder besser: im Wiederaufbau – überall, wo noch Kriegsschäden zu beseitigen waren. Vielen Häusern fehlten in den oberen Stockwerken Fenster oder ganze Wände, oder der gesamte oberste Stock war nicht mehr da, und wenn man genau hinsah, war fast jede Oberfläche voller Einschussnarben. Ich wünschte, der Weg wäre weiter, damit ich mehr von Pest sähe, aber wir waren übereingekommen, dass wir alle Morgenveranstaltungen dieses Tages besuchen wollten, um unsere Kongressteilnahme so legitim wie nur möglich aussehen zu lassen. ›Und später möchte ich noch etwas tun, am Nachmittag‹, sagte Helen nachdenklich. ›Da gehen wir in die Universitätsbibliothek, bevor sie ihre Tore schließt.‹
    Als wir vor dem großen Gebäude ankamen,

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